Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 2, Februar 2003

Große Schlesier: Jochen Klepper 1903 - 1942

Jedes Menschenleben mündet ins Geheimnis. Jochen Klepper wusste darum. Nicht nur, dass er in seinen Romanen und Erzählungen dieses Geheimnis respektierte – er stieß darauf im Umgang mit sich selber, wovon seine Tagebücher erschütternde Kunde geben. Er war ein auf Religion, auf Glauben tiefangelegter Mensch, war es “von Hause” aus: sowohl durch die Herkunft aus einem niederschlesischen Pfarrhaus wie durch seine Zugehörigkeit zu einem Volksstamm, der sich in dem auskannte, was der Thüringer Friedrich von Hardenberg einmal den “geheimnisvollen Weg nach Innen” genannt hat. Auch der Weg von Völkern und Stämmen mündet im Geheimnis. Die Tragödie Schlesiens will noch beschrieben werden – vielen Ansätzen zu solcher Beschreibung zum Trotz, die seit 1945 versucht wurden. Gerhart Hauptmanns letzte Tage auf dem Wiesenstein in Agnetendorf, Joseph Wittigs einsames Ende in der Lüneburger Heide – und Jochen Kleppers Freitod in Nikolassee gehören in einen mystischen Zusammenhang. Es ist wie ein lang nachhallender Todesseufzer – des Landes in den Personen und umgekehrt.

Die kleine Landstadt Beuthen an der Oder, wo Klepper am 22. März 1903 geboren wurde, liegt nicht weit von dem nicht umfänglicheren Köben, dem Geburtsort Johann Heermanns, eines Dichters und Theologen, den man gut und gerne als Geistesnachbarn Kleppers bezeichnen könnte. Beide waren sie dem Glaubensdenken Martin Luthers verpflichtet, beide in jener Schule unterrichtet, welche die alten Lutheraner gerne die “Schule des Kreuzes” nannten. Beide haben sie nach dem Dichter-Lorbeer gestrebt – beide bei schwankender Gesundheit. Schließlich sind beide mit einigen Liedern ins evangelische Kirchengesangbuch gekommen.

Es gibt noch einen anderen älteren Dichter, den man sich in Kleppers geistiger Nähe denken könnte: Heinrich von Kleist. Beider Lebensausgang war ein gewaltsamer – man nennt es Freitod – und geschah in Gemeinsamkeit mit einer Frau. Beide haben ihr Grab in der Nähe des Wannsees gefunden. Ostdeutscher Herkunft war der eine wie der andere. Preußen galt ihre Liebe. Ein einziges Mal kommt Kleist in Kleppers Tagebüchern vor, in einem etwas verschlüsselten Satz – auf der Reise nach Würzburg geschrieben, wohin einst der junge Schleiermacher einen Ruf empfangen hatte -:”Das Würzburg, in dessen Anblick Kleist auf der Alten Mainbrücke erfuhr, dass er ein Dichter werden müsse, hat die Enttäuschungen auf Verwundungen, denen wir heut ausgeliefert sind, noch nicht bereitgehabt” (18. Oktober 1942)

Enttäuschungen und Verwundungen häuften sich in diesem denkwürdigen Lebensgang in dem Jahrzehnt von 1932 bis 1942, das heißt: in dem seiner Berliner Schriftstellerexistenz. Alles vorherige war gleichsam Spannung des Bogens auf den Schluss hin, von welchem Klepper wünschte, hoffte, träumte, dass er ins Schwarze treffen möge. Es waren alles schlesische Stationen, mit der einen flüchtigen Ausnahme Erlangen. Er absolvierte das humanistische Gymnasium in Glogau, der Heimatstadt des Lyrikers und Dramatikers Andreas Gryphius. 1921 entschloss sich der Pastorensohn zum Studium der Theologie in Breslau. Seinen Lehrern Professor Rudolf Hermann und Professor Ernst Lohmeyer bewahrte er lebenslange Dankbarkeit. An Lohmeyer dürfte ihn das Künstlerische angezogen haben – von Hermann empfing er den Anstoß zum Umgang mit Luthers Theologie.

Der Gedanke, einmal in den Dienst der Kirche zu treten, wurde von ihm kaum ernstlich erwogen: zu heftig trieb ihn die Literatur um, weniger der Umgang mit zeitgenössischer – vom Expressionismus scheint er kaum berührt worden zu sein – als mit eigenen Plänen, Versuchen. Seine lyrischen Erstlinge verraten den Einfluss Rilkes. Den Kommilitonen im “Sedlnitzkyschen Johanneum” fiel er durch einige Absonderlichkeiten auf – seine Ästhetizismus, sein Interesse für Mode, auch für Puder und Schminke. Frau Lohmeyer, deren Mann bald nach 1945 von den Russen in Greifswald verhaftet wurde und höchstwahrscheinlich in einem Lager umgekommen ist, erinnert sich: “Er hatte schon in dieser Zeit eine richtige Getriebenheit in sich, zu formen und zu gestalten, und scheute keine Mühe, die Ansätze dazu aufs Papier zu bringen. So erzählte er mir, er schreibe alle Gespräche des Tages am Abend ganz genau auf, einerlei mit wem er sie geführt habe, ob in einem Laden, ob mit einem Straßenbahnschaffner oder über einen Zaun, ob in der Universität mit Kameraden oder mit einem Professor oder mit einer Portiersfrau. Aus guten Gründen war ich bei seiner Eröffnung bedenklich und fragte: “Aber was machen Sie denn bloß damit?” Und er erzählte mir, am Schluss des Jahres zöge er alle Fäden, die diese Gespräche verbänden, zusammen, und dann gäbe es ganz von selbst Geschichten.” Man darf hierin wohl die Vorform seiner mit äußerster Akribie abgefassten Tagebuchnotizen zwischen 1931 und 1942 erblicken. Neugier auf Menschen und Dinge spricht sich darin aus – die Neugier des Erzählers. Auch die Evangelisten waren Erzähler -, wovon heutige Exegese nur wenig ahnt und weiß. In seiner Schrift “Der christliche Roman” meditiert Klepper über die daraus dem modernen christlichen Epiker erwachsenden Aufgaben: “Vom Worte Gottes her erklärt, aber auch verklärt er die Welt; unter das Gericht dieses Wortes sieht er sie gestellt; in diesem Worte findet er ihr Heil; dieses Wort ist ihm Wahrheit über alle Weltweisheit.”

Es war in den ersten Jahren nach dem beendeten – ohne Examen abgeschlossenen – Studium, dass Klepper sich in diese Problematik einließ. In dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Einen schlanken, schmächtigen jungen Mann mit staunenden braunen Augen, sanfter Stimme, leicht errötend, gesellig, ein wenig melancholisch, ein homme de lettres auf dem Wege zur Literatur: wir befreundeten uns. Doch infolge meiner Versetzung nach Waldenburg verloren wir uns zunächst wieder aus den Augen. Erst in Berlin sahen wir uns wieder. Hierhin hatte es ihn gezogen nach seiner Heirat mit Hannah Stein geborenen Gerstel – 1931 -, die aus ihrer ersten Ehe (aus einer Nürnberger Familie stammend, hatte sie ihren Mann, einen Rechtsanwalt, durch den Tod verloren) zwei Töchter – Brigitte und Renate – mitbrachte. Klepper war 28 Jahre alt, Hannah Stein 41. Ins Geheimnis dieser Ehe einzudringen, kommt uns nicht zu. Schon bei Lektüre der Tagebücher hat man bisweilen das Empfinden, zu viel zu erfahren. Merkwürdigerweise finden sich bereits im ersten Jahrgang der Tagebücher Reflexionen über den Selbstmord. “Alles läuft nach eigenen Gesetzen ab: Die Familientragödie. Der Berufskampf.” Tatsächlich sollte sich beides fortan mehr und mehr ineinander verwirren. Im Anfang lag schon das Ende.

Die Funk-Regisseure und Funk-Autoren Harald Braun und Friedrich Bischoff nahmen sich des jungen, ehrgeizigen Literaten an, betrauten ihn mit Hörfolgen, Hörspielen – er fand sogar Anstellung im Funkhaus, die einzige seines Lebens, nur für einige Monate. Die durch den Nationalsozialismus bedingte Entlassung wurde wettgemacht durch Annahme eines Roman-Manuskriptes “Der Kahn der fröhlichen Leute” bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart, deren Berliner Vertreter, Dr. Karl Pagel auch fernerhin treu zu ihm hielt. Dem Buch ist eine leicht manirierte Sprache eigen, der volkstümlich klingende Titel täuscht über eine gewisse Künstlichkeit der Erfindung und des Vortrages hinweg; aber die erste öffentliche Talentprobe, nach mancherlei im Versuchsstadium steckengebliebenen Ansätzen, lag nun vor und ließ Bedeutenderes erwarten. Filmpläne beschäftigten ihn, eine vorübergehende Tätigkeit im Ullstein-Verlag erwies sich als unzulänglich, ja entwürdigend. Der von viel Kopfschmerzen geplagte Mann geriet in einen Zustand der Rastlosigkeit, der Zerfahrenheit. Schwermut erfasste ihn “über das Schicksal eines Dichters in dieser Zeit”. “NSDAP” lautete die Formel für alles, was zu diesem Schicksal beitrug. Schon im März 1933 schreibt er von dem “stillen Pogrom”, das “in der Legalisierung des Boykotts gegen jüdische Geschäfte, Richter, Anwälte, Ärzte, Künstler einen Höhepunkt erreicht”. Noch – ja: lange noch – meinte er, dem sein Südender Idyll entgegenstellen zu können, das neue Haus, das wenige Jahre später aus Verkehrsgründen abgebrochen werden musste. Er durfte sich dann ein zweites bauen, das letzte Refugium, in Nikolassee.

Er hatte Berlin liebgewonnen: “die Arbeitsstadt; die beleuchtete, bis in den letzten Winkel erhellte Stadt, die von allen Arten der Verkehrsmittel imponierenden Präzision und Bequemlichkeit erschlossene Stadt; das alte Berlin, das es noch neben dem bekannten Alt-Berlin gibt: den alten Villen-Teil am Wannsee, die steigenden Parkstraßen, die uralten, riesigen Gärten, die verfallenen barocken Parktore und Laternen, die verfallenen Bildwerke in verwilderten Gärten, überwuchert und umwachsen, die Landhäuser alter höfischer Zeit, dem Frankreich der Tuilerien und des Palais Royal ebenbürtig, die Stille, die Nachmittagssonne, die vollen Blumen, das reifende Obst, die Segel auf dem See.” Der Schlesier war heimisch geworden in Berlin. Doch ohne dass die Fäden zur Heimat hin ganz zerrissen wären. Es ist ergreifend, ihn kurz vor dem Ende noch einmal die Fahrt nach Schlesien antreten zu sehen, im vollen Bewusstsein endgültigen Abschiedes: “Wir sind noch einmal so nach Schlesien heimgekehrt, wie es nur sein kann – mit allen heimatlichen Gefühlen” (22.Januar 1942).

Aber nur zwei Monate zuvor, am 17. November 1941, findet sich in einer drei Seiten langen Eintragung der Entschluss: “So wollen wir, tritt dies Schreckliche ein und vermag kein Frick noch sonst jemand es abzuwenden, uns drei mit Gas vergiften:” Anfang Oktober desselben Jahres war er wegen seiner “nichtarischen” Frau aus dem Wehrdienst entlassen worden. Ein volles Jahr hatte er – daheim und draußen, an der russischen und der Balkanfront – der Wehrmacht angehört, Poet im Soldatenrock, und auch über dieses Jahr in Tagebuchnotizen wie Briefen ausführlich berichtet. Es scheint, dass es für ihn – man muss es sagen – eine Art Befreiung bedeutete, nämlich von den Fesseln jenes “tragischen Idylls”, zu welchem Nikolassee mehr und mehr für ihn geworden war. Die zurückgebliebenen Frauen – Gattin und Töchter – empfanden die Veränderung, gaben ihrer Befürchtung Ausdruck, dass Jochen sich an diese, gewiß problematische, Freiheit verlieren könnte. Doch ohne Grund, die häusliche Misere warf ihre Schatten auch über sein Soldatenjahr: “Das Herz ist mir so schwer wie in den härtesten Tagen meines Lebens. Und immer ist’s ganz das gleiche Gefühl, wenn dieser Komplex Mischehe auftaucht.” Von seinen Vorgesetzten geschätzt, mit ihm gemäßen aufgaben betraut – zum Beispiel der Geschichte seiner Division -, schlug er sich tapfer durch das abenteuerreiche Jahr. Auch hatte sein Königsroman “Der Vater” ihm gerade in der Armee viele Freunde gewonnen. Die Töchter waren inzwischen zum Tragen des Davidsstern genötigt worden. Er wusste: “Ich kann nicht wie andere, wenn sie aus dem Kriege heimkehren, sagen: ‚Nun beginnt ein neues Leben‘.” Nein, es setzte sich das alte, schrecklich gewohnte, nur weiter fort.

Neun Jahre hatten ihm seit seiner Entlassung aus dem Funkhaus zur Verfügung gestanden: die Jahres seines “Absoluten” Schriftstellerdaseins. Er nutzte sie mit bewundernswerter Energie. Noch im Jahr der Entlassung, 1933, kam ihm die Idee zu seinem Hauptwerk, dem Roman “Der Vater”. Damals wollte es mir bisweilen scheinen, als wirkte sich in diesem Buchplan ein den Autor oft anwandelnder “Eigensinn” aus, der ihn auch bei seiner Eheschließung dunkel bestimmt haben mag. Er hätte sich ja vergleichsweise harmloseren Stoffen zuwenden können, aber nein, gerade den umstrittensten Preußenkönig wollte er ins Licht der Gegenwart rücken, einer Gegenwart, die zwar mit “Potsdam” flirtete, im übrigen aber sich gegen die mit diesem Namen bezeichnete Idee tausendfach verging. Just in dem Moment, da die unväterlichste Gestalt der deutschen Geschichte ihren schrecklichen Marsch zur Macht begann, widmete dieser “jüdisch versippte” Autor seine ganze dichterische Energie der Ehrenrettung Friedrich Wilhelms I., des Soldatenkönigs. Fast vier Jahre arbeitete er an dem Buch, mit dessen Erscheinen, März 1937, kurz vor seinem 34. Geburtstag, er sich endgültig sowohl als großer Erzähler wie als unbequemer Mahner vor der Öffentlichkeit manifestierte. Der Erfolg war erstaunlich. Kein Verbot traf den eigenwilligen Bestseller. In Kreisen der Wehrmacht wurde der Roman als Stütze preußischer Tradition empfunden. Doch war Kleppers erstes Anliegen ein religiöses gewesen: er scheute sich nicht, jedem der 15 Kapitel ein Bibelwort voranzustellen, alle auf das Wesen des Königtums bezüglich. Die Hohenzollern hatten ausgespielt. Nicht so der Königsgedanke. Das Buch musste als politisches Votum empfunden erden.. Gegen die usurpierte Macht – für die legitime. Gegen das Bündnis mit dem Nichts – für ein Amt aus Gerechtigkeit und Gottesfurcht.

Hatte der Autor es bewusst so gemeint? Oder verband sich mit seinem Eigensinn auch eine gewisse politische Naivität? Helmut Seier spricht in seiner Studie “Kolaborative und oppositionelle Momente der Inneren Emigration Jochen Kleppers” im Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Band VIII, 1959 – soweit ich sehe, die bis heute einzige wissenschaftliche Arbeit über den Autor -, von Kleppers “borussischem Lutherismus”. Eine Formel, die doch auf eine Verengung der lebendigen Wirklichkeit hinausläuft. Immerhin: Es bildete sich um das Buch und seinen Autor eine Art von positiver Aura, die auch die Maßgeblichen in der “Reichsschrifttumskammer” zu irritieren schien. “Die Funktionäre dieser Behörden gerieten auf mannigfache Weise selbst in das Kraftfeld des Geistes, den zu überwachen ihre Aufgabe war: als Leser der Bücher, die sie zensierten, als Verhandlungspartner der beargwöhnten Autoren, denen sie sich bei einiger Selbstkritik nicht überlegen und – kulturell und soziologisch gleicher Herkunft – in manchen Gesichtspunkten nahe fühlen konnten. Die Zonen sind nicht schematisch trennbar, die der inneren Emigration reiche und wirkte in den Staat hinein”.

Ein Phänomen, mit welchem ich nicht nur im Fall Klepper in Berührung kam. Ich war ja nun auch sein Verleger. Und zwar jenes Teiles seiner Produktion, mit welchem er sich uns, nämlich dem “Eckart-Kreis”, besonders verbunden fühlte: seiner religiösen, christlichen, geistlichen Lyrik. Die Dinge waren in Wirklichkeit oft viel subtiler, als es der Forschung nach 25 Jahren erscheinen mag. So hatte Klepper in einem Beamten der “Reichsschriftumskammer” einen ausgesprochenen Freund: Dr. Koch, der wohl bis über die Schwelle des Krieges noch über ihn die schützende Hand hielt. Er hatte auch Freunde in der Wehrmacht. Vor allem aber im kirchlichen Bereich. Mindestens seit jenem “Fest der Kirchenmusik”, 1936, wo ich zum erstenmal ein paar Lieder des Dichters öffentlich mitteilen konnte. Der vorhin erwähnte “Eigensinn” – im Grunde eine der ersten Tugenden des Künstlers – trieb ihn auf dem einmal eingeschlagenen Wege weiter. Die Tagebücher enthalten eine Menge Material dazu.

Er wollte ein “Dichter der Kirche” sein. (Was heute niemand mehr will.) Auch der um 25 Jahre ältere Rudolf Alexander Schröder hatte auf diesen Ehrentitel gesetzt. Nennen wir noch Reinhold Schneider, Siegbert Stehmann, Werner Bergengruen, den “inneren Kreis” unserer Gruppe. Klepper gab seiner Sammlung von 30 Liedern der bezeichnenden Titel “Kyrie”. Die Maßgeblichen ließen sie passieren. Der von ihnen überwachte Autor durfte sich des doppelten Erfolges freuen. Er war gerade dabei, sich ein neues Haus zu bauen. Auch dies kam zustande. Klepper empfand “überströmende Dankbarkeit”. Nun erreichte ihn die Schar der Besucher. Frau Hannah war eine ebenso umsichtige wie charmante Gastgeberin. Die Tochter Brigitte konnte nach England emigrieren. Renate blieb zurück. Um sie wuchs die Sorge des Vaters. Kein Erfolg, keine Geselligkeit konnten ihn über den Ernst der Lage täuschen. Die Synagogen brannten. Die Deportationen begannen. Kleppers Tagebücher haben den Rang einer religiösen Konfession und zugleich einer politischen Chronik von Künstlerhand. Mit ihnen hat er – unbewusst – ein unvergängliches Dokument der Wahrheit über ein Jahrzehnt persönlicher und allgemeiner Leiden unter “Leviathan” geschaffen. Es gehört in die Reihe ähnlicher Selbstzeugnisse wie Theodor Haeckers “Tag- und Nachtbücher”, Joseph Delps “Christ und Gegenwart”, Henri Perrins “Tagebuch eines Arbeiterpriesters”, Simone Weils “Schwerkraft und Gnade”, Joseph Wittigs “Roman mit Gott”, Helmuth James Moltkes Briefe. Alles Extrakte großer Prüfungen, unergründlicher Heimsuchungen. Heute scheint eine Decke darüber gebreitet – sie wird aber wieder weggezogen werden.

Am 10. Dezember 1942 ging Jochen Klepper zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter in den selbstgewählten Tod: durch Einatmen von Gas. Die Offiziellen sorgten dafür, dass das erste Aufsehen bald wieder beigelegt wurde. Zur Beisetzung auf dem Friedhof in Nikolassee war eine kleine Schar von Freunden versammelt. Der Ortspfarrer, Dr. Wiese, sprach Gebete und Bibelworte. Vierzehn Tage vor Weihnachten, dem Fest, das für Klepper immer Anlass zu intensiver Begehung gegeben hatte. Reinhold Schneider sagt dazu in seinem autobiographischen Buche “Verhüllter Tag”: “Er lebte im Kirchenjahr: Die Feste der Kirche waren die seinen; in sie verflochten sich die Geburtstage der kleinen Familie. Die Vorbereitung auf Weihnachten beschäftigte ihn lange. Er verwandelte dann das ganze Haus in Kerzenlicht und bedrängte mich, mit ihm zu feiern.”

Klepper versäumte nicht, diese häuslichen Feiern im Tagebuch ausführlich zu schildern. Es lebte sich darin eine Art dionysischer Festfreude aus. Doch der Grund seiner Frömmigkeit war das Kreuz. Die Tiefen der Theologie Luthers hatten sich schon dem Studenten erschlossen. Luther-Zitate sind reichlich über den Tagebuchseiten ausgestreut. Das Kreuz als Zeichen der “Umwertung aller Werte”: der Torheit Gottes gegenüber der Weisheit der Menschen. Anfechtungen und Verdunkelungen wurden unter diesem Aspekt ertragen, überwunden. Eine anfängliche Verzärtelung, der Stachel des Ehrgeizes, die Angst der Ausweglosigkeit – in und über dem allen erhob sich Gewissheit. Nicht nur für die eigene Person, sondern auch für Gattin und Tochter. Gegen Ende der Qual, nach der Rückkehr aus dem Felde, dann auch das Verlangen, dieser ledig zu werden:

Mein Gott, ich will von hinnen gehen,
der Erdentag wird mir zu lang,
die Tore deiner Stadt zu sehen,
zu hören himmlischen Gesang.
Vor deinem Angesicht zu stehn,
das ist’s allein, was ich ersehen.

Nicht, daß ich nicht zu danken wüßte
für das, was du mir hier beschert.
Nicht, daß ich nicht geduldig büßte,
solang es dein Gericht begehrt.
Doch das, wonach mein Herz so brennt,
ist, daß mich nichts mehr von dir trennt.

Er trug sich zuletzt noch mit dem Plan eines Luther-Romans, trieb mühsame Vorstudien dazu, schrieb auch ein erstes Kapitel, an dem abzulesen ist, in welches Abenteuer er sich damit gestürzt hatte. Immer wieder umkreisen die Tagebuchnotizen dieses Vorhaben, das den Titel “Das ewige Haus” tragen sollte. Man kann nicht umhin, die letzte Tagebuch-Aufzeichnung in diesem Zusammenhang zu sehen, jene oft zitierten sechs kurzen Sätze, die Quintessenz seiner Leiden, seines Glaubens, seines Lebens:

“10. Dezember 1942/Donnerstag
Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst.
Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott –
Wir gehen heute nacht gemeinsam in den Tod.
Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt.
In dessen Anblick endet unser Leben.”

Mit wem er bei dieser letzten Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst gesprochen hat, ist nicht bekannt. Doch erfahren wir aus der Aufzeichnung vom vorangehenden Mittwoch: “Nachmittags war ich bei Eichmann vom Sicherheitsdienst. Auch Eichmann fragte nach der sofortigen Ausreise. Das deutet auf neue drohende Maßnahmen.” Danach dürfte Eichmann der letzte Mensch gewesen sein, mit dem Jochen Klepper außerhalb seines Hauses noch gesprochen hat. Er schreibt davon: “Ich war nun in der Welt meiner Träume, es waren die Menschen, die Stimmen, die Räume -. Dort, dort liegt die Macht.”

Ein Passionsbericht. Drei Jahre später erfuhr auch das Land, dem er entstammte, seine Passion. Die Worte der Dichter durchdringen die Jahrhunderte. Von Andreas Gryphius haben wir die Zeile: “Welt, rühme, was du willst, ich muß die Trübsal preisen.” Schlesische Erfahrung – der Welt und Gottes. Jochen Klepper, der letzte in der still glänzenden Reihe von Schlesiens geistlichen Dichtern, trägt sie weiter in unsere Gegenwart, in unsere Zukunft:

Ohne Gott bin ich ein Fisch am Strand,
ohne Gott ein Tropfen in der Glut,
ohne Gott bin ich ein Gras im Sand
und ein Vogel, dessen Schwinge ruht.
Wenn mich Gott bei meinem Namen ruft,
bin ich Wasser, Feuer, Erde, Luft.

Kurt Ihlenfeld

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