Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 6, Juni 2005

Eine verspätete Abiturabschlußrede

von Winfried Ackermann

Der Hochaltar der Stadtpfarrkirche

Abiturjahrgang 1943

Lehrerkollegium

Oberrealschule in Glogau - König-Friedrich-Platz
Mit dem Goldfischteich vor dem Denkmal Friedrich des Großen
Nach Plänen von Stadtbaurat Wagner wurde 1908-1909 der imposante Bau der Realschule (ab 1917 Städtische Oberrealschule) errichtet. Im Anklang an Formen des böhmisch-schlesischen Hochbarock, auch der regionalen Landhausarchitektur, gelang Wagner ein harmonischer Einklang mit moderner Architektur jener Zeit, also der Besinnung auf heimische Bautradition und einfache, klare Formgebung. Zeitgenossen sahen in diesem Bau ,,eine der schönsten Schulen Schlesiens". Hinter dem Hauptrisalit verbirgt sich im nördlichen Gebäudeteil im Erdgeschoss die große Turnhalle, darüber die festliche Aula und über dieser der ausgedehnte Zeichensaal (Willibald Paschkes Reich). Gekrönt wird dieser hochragende Kopfbau durch den Barockgiebel, der das sehr große Zifferblatt der Turmuhr umrahmt.
Im südlichen Gebäudeteil werden durch ein Risalit die Direktor- und Lehrerzimmer im Erdgeschoss und die darüberliegenden Fachräume für Physik und Chemie markiert. - Selbst der Haupteingang in der Mitte des Bauwerks ist durch einen vorspringenden Gebäudeteil einladend gegliedert.
Verehrter Herr Studiendirektor,

sehr geehrte Damen und Herren des Kollegiums, liebe Eltern, hallo Mitschüler!

Wie gerne hätte ich damals die Abschlussrede zum Abitur gehalten! Spritzig und witzig hätte ich zuerst an einige unserer Schülerstreiche erinnert, z. B. wie wir beim Musikzimmer den Stift aus der Türklinke gezogen haben. Als ,Schuschnigg', Herr Schubert, die Tür öffnen wollte, hatte er die Klinke in der Hand und stand ausgesperrt draußen auf dem Gang. Wir aber verhielten uns drinnen mucksmäuschenstill. Er holte also unseren Hausmeister Wegener (0-Ton: ,,Ich und der Herr Direktor haben beschlossen."). Als der ,Sub', mit einem Vierkantschlüssel bewaffnet, vor der Tür stand, schüttelte er ungläubig den Kopf. Die Klinke war doch dran!! Und drinnen lärmte die Klasse wie immer. Der Sub warf dem Schuschnigg einen scharfen Blick zu, halb abschätzend, halb ironisch. Sollte der vielleicht und das schon am hellen Vormittag?

Oder wie wir die Parole ausgegeben haben: ,,Der Papa ist krank". Die ganze Klasse ging daraufhin vorzeitig nach Hause, und die Biostunde von Dr. Grau (0-Ton: ,,Wer muss mich erinnern?") war geplatzt. Hurra! Wer das Gerücht aufgebracht hatte, war hinterher nicht mehr zu ermitteln.

Oder wie wir im Englischunterricht bei Mrs. Guyke einmal heimlich unter den Schultischen geraucht haben. Die Zigarette wanderte von Mund zu Mund, bis plötzlich ein zartes Wölkchen über den Köpfen stand und Mrs. Guyke konsterniert ausrief: ,,What's that???" Als Anstifter wäre ich dafür beinahe von der Penne geflogen. Aber ein gütiger, vielleicht auch amüsierter ,Pauker' musste wohl schützend seine Hand über mich gehalten haben. So transportierten wir stattdessen zur Strafe nur jede Woche die stinkigen Knochen aus der damals üblichen Altmaterialsammlung in einem Leiterwägelchen durch die Stadt zur Sammelstelle. Zum Gaudi aller Mitschüler!

Nach diesem heiteren Rückblick auf die Schulzeit hätte ich dann in wohlgesetzten Worten unseren Lehrern Dank für ihre Mühen gesagt und danach mit Begeisterung geschildert, wie wir uns unsere Zukunft vorgestellt und was wir uns vorgenommen hätten.

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Abiturjahrgang 1943 der "Roten Penne" in Glogau
Vor dem Haupteingang - Ostseite. Der größere Teil dieses Jahrgangs wurde vorzeitig zum Wehrdienst einberufen und erhielt deshalb den Reifevermerk (Notabi), von links: Carl-Hermann Gebhardt, Wolfgang Lehmann, Gert Mau, Hans-Siegmund von Gimborn, Rudi Weiß, Hans-Joachim Schulz
Doch es war mir, wie vielen meines Jahrgangs, nicht möglich, mein Abitur zu machen. Eines Tages bekam ich zuerst den Einberufungsbefehl. Dann überreichte mir Studiendirektor Könnemann den ,Reifevermerk' und drückte mir zum Abschied die Hand. Und das war's!

So wurde, drei Tage nachdem die Reste unserer geschlagenen 6. Armee in Stalingrad kapituliert hatten, aus dem Schüler ein Soldat. Unser Jahrgang kam gerade zurecht, um nach dieser Katastrophe den bittersten Teil des Krieges mitzuerleben. Nur wusste ich das damals noch nicht.

Befreit von der ,Alltagslast' der Schule glaubte ich an das große Abenteuer, das da ,Krieg' hieß. Endlich war die leidige Schulzeit vorbei! ,,Gott sei Dank", schrieb ich damals an Studienrat Schroeter, den wir ,Seppel' nannten. ,,Gott sei Dank und nie mehr zurück in die Schule!" Ach, was war ich doch naiv! Das musste Sie maßlos enttäuscht haben, Herr Schroeter. Sie hatten mich, trotz Ihrer scheinbar bärbeißigen

und ,wurschtigen' Art (0-Ton: ,,Die Quittung kriegt ihr Ostern"), unter Ihre Fittiche genommen, und ich genoss manche Privilegien bei Ihnen, wie zum Beispiel beim Rudern und beim Paddeln mit Ihrer

,Helios'. Wie gern hätte ich Ihnen später gesagt, was für einen dummen Satz ich damals geschrieben hatte. Welche Groteske: ,,Niemals zurück in die Schule!" Und dann bin ich mein Leben lang in die Schule gegangen und das sogar freiwillig. Wie hätten Sie darüber geschmunzelt! - Ich habe Sie nie wiedergesehn, Herr Schroeter; und die Schule gibt es nicht mehr.

Das Gebäude steht noch. Aber der alte Geist ist daraus verschwunden. Das Kollegium ist in alle Winde zerstreut. Manche sind gefallen, andere inzwischen längst gestorben. Es tut mir Leid, Herr Studienrat Schroeter, so Leid. Sie haben mir und meinen Mitschülern viel gegeben, Sie und Ihre Kollegen. Wir wussten es nur nicht zu schätzen.

Und Sie, Herr Dr. Schröder, den wir ,Zahme' nannten, mit Ihnen konnte ich nach dem Kriege noch korrespondieren. Irgendwie hatte ich Ihre Adresse erfahren. Sie gaben mir bereitwillig die Bestätigung, dass ich in Glogau die Oberrealschule besucht hatte und halfen mir damit weiter. Sie waren es auch, der durch seine lebendigen Schilderungen des Investiturstreites (Ihrem Lieblingsthema) mein Interesse an Geschichte geweckt hat. Am meisten beklagten Sie damals den Verlust Ihres ,Zettelkastens', in dem Sie ein Leben lang geschichtliche Fakten und Quellen gesammelt hatten, wie auch die in jedem Jahrgang wiederkehrenden Witze, etwa die Warnung vor den ,Puppchengesichtern' und über die Reitkunst der Römer (0-Ton: ,,Seid umschlungen, Millionen").

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Lehrerkollegium (ein Teil) der "Roten Penne" in Glogau 1938
Auf der Treppe des Westeingangs vom Pausenhof, hintere Reihe von links: StR Franz Könnemann (Kö), OstDir Walter Kluge (Wuppchen), StR Friedrich Guelke (Piefke), StR Schubert (Schuftel), StR Dr. Schröder (der Zahme), StR Joseph Schroeter (Seppl), StR Dr. Ludwig Grau (Pappa),
vordere Reihe von links: Oberturnlehrer Gustav Otto (Ottel), StAss Dr. Kurt Pietsch, StAss Dr. Ksoll (Kuli), StR Friedrich Mau, OstR Hermann Gattig (Appa)
Ich habe Ihnen später nie geschrieben, was ich aus Ihrer Bestätigung habe machen können und auch nicht, dass ich in Ihrem Stil Geschichtsbücher für den Unterricht geschrieben habe und mir die bei Ihnen gelernte Stenographie gute Dienste geleistet hat. Auch die Idee des Zettelkastens hat mich inspiriert, eine Kartei für die Schulverwaltung entstehen zu lassen. Ich habe Ihnen nie dafür danke gesagt. Wie schofel habe ich mich doch Ihnen gegenüber in meinem jugendlichen Egoismus benommen!

Und Sie, Herr Mau, haben bei mir das Verständnis für Mathematik und Physik geweckt. Bei Ihnen habe ich logisch denken gelernt und die Gesetze der Physik begriffen. Die Freude am Zeichnen und den Sinn für Schönheit haben Sie, Herr Paschke, mir nahe gebracht. Und bei Ihnen, Herr Dr. Pietsch, habe ich, so hoffe ich - Schreiben gelernt, Schreiben mit klarem Aufbau, gutem Stil und treffendem Ausdruck.

Gerade Sie, Herr Dr. Pietsch, mit Ihrem Temperament, Ihrem Engagement für Ihre Schüler und Ihrer unbeugsamen Energie in Unterricht und Erziehung sind mir ein Vorbild als Pädagoge gewesen, dem ich stets versuchte nachzueifern. Ihnen konnte ich das sogar sagen! Sie habe ich in späteren Jahren wieder getroffen. Wenigstens einem konnte ich danke sagen. Ihm für alle anderen mit, die hier nicht namentlich genannt werden, die aber in meiner Erinnerung lebendig sind. Danke für die wundervolle Schulzeit!

Sehr geehrte Damen und Herren des Kollegiums! Statt eine feurige Rede über die Zukunft frischgebackener Abiturienten gehalten zu haben, ist am Ende meines Lebens nur eine Aufzählung aller meiner Versäumnisse, für die ich mich schäme, herausgekommen.

Und hallo, liebe ehemalige Schüler der ,Roten Penne' zu Glogau, wohin euch das Schicksal auch verschlagen haben mag! Ich hoffe, auch in eurem Namen gesprochen zu haben und glaube, dass viele von euch ähnlich denken und fühlen wie ich. Ich bereue aufrichtig, dass ich das alles nicht meinen Lehrern damals gesagt habe. Und ich bin untröstlich, dass wir ihnen auch nicht mehr sagen können, dass ihre Arbeit an uns wohl nicht ganz vergebens gewesen ist (0-Ton Seppel: ,,Lieber Steine klopfen..." ). Denn inzwischen weiß ich einzuschätzen, was es bedeutet, wenn ein ehemaliger Schüler zu seinem Lehrer sagt:

,,Was ich heute bin, verdanke ich zum großen Teil Ihnen!"

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