Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 12, Dezember 2005

Erinnerungen an die Felbiger-Schule in Glogau

Ein Klassenfoto. - Aufgenommen vor 78 Jahren im Knabenhof der Felbiger-Schule zu Glogau. Im Rücken der Schülergruppe verläuft die Friedrichstraße. Dorf befand sich auch der Ein- und Ausgang des Schulhofes, während der Pausenhof für die Mädchen an der Gryphiusstraße lag. Auf der rechten Bildseite ist der Schulhof von der Seitenmauer des letzten Hauses der Friedrichstraße begrenzt. Auf der linken Seite die Anlehnung an das städtische Krankenhaus. Es roch von dort meist und je nach Windrichtung, nach Schweinestall, weil das Krankenhaus zur Eigenversorgung Schlachtvieh hielt.

Der Herr Lehrer Baer stand dieser 8. Klasse als Klassenlehrer vor. Ich erinnere mich, dass er Leo hieß und ein liebenswürdiger Zeitgenosse war. Sein Unterricht und das Verhältnis zu seinen Schülern war stets mit einer Prise Humor gewürzt. Noch immer habe ich seine sonore, kräftige Stimme im Ohr und sehe in seinem Antlitz die nachsichtige Mine, mit der er die Angst des Nichtwissens bannte. Einen Rohrstock, der bei einigen seiner Kollegen zum pädagogischen Standard gehörte, benutzte Leo nie.

Die meisten der erwartungsvollen Kindergesichter sind mir aus eigener Erinnerung vertraut, wenngleich mir die Namen dazu fehlen, bis auf zwei. In der Mitte der ersten Reihe mit der Schiefertafel auf dem Schoß sitzt Werner Friedmann, und der Knabe mit dem weißen Hemd zu seiner Linken ist sein jüdischer Glaubensbruder Dieter Lucas. - Wer erkennt sich wieder? Auf diese Frage wird es kaum noch Antworten geben, denn die Schüler mit den Matrosen- oder Schillerkragen sind heute mindestens 84 Jahre alt. So mancher von ihnen liegt wohl bereits seit Jahrzehnten in einem Soldatengrab, an irgendeinem Frontabschnitt dieses entsetzlichen Krieges. Sie waren allesamt ein gefragter Jahrgang.

Werner Friedmann, der mir bei seinem letzten Besuch in Berlin, im September 2005, dieses Klassenbild übergab, lebt in USA. Er ist der einzige Überlebende seiner großen Glogauer Familie. Rechtzeitig hat ihn sein Vater, ein bekannter Glogauer Rechtsanwalt, in ahnungsvoller Voraussicht bereits 1938 zur Ausreise veranlasst. Das hat ihm das Leben gerettet. Sein Vater und sein jüngerer Bruder gingen den Weg, der ohne Umkehr blieb.

Für etwa 30 Glogauer Juden, darunter der Chefarzt der Kinderkrippe, Dr. Nathan, endete die letzte „Reise“ dieser Menschengruppe im April 1942 in Ilzbica, nahe Lublin in Polen.

Im Vernichtungslager Belceg fanden alle den Tod.

Obgleich seine Angehörigen dem Holocaust zum Opfer fielen und vor diesem Exodus schreckliche Zeiten der Verfolgung und Demütigung erleiden mussten, hängt er noch immer mit ganzem Herzen an seiner Heimatstadt Glogau. Es ist bewundernswert und fordert immer wieder meinen Respekt, wie er diese Wunden erträgt. Mit dem Sohn seines Nachbarn auf dem Foto, Dieter Lucas, war er in diesen Septembertagen in Glogau. Der Vater von Herrn Lucas, der von London aus den Bau der Gedenkstätte auf dem Areal der ehemaligen Synagoge ins Leben rief, war der Sohn des letzten Rabbiners der jüdischen Gemeinde zu Glogau.

Ich selbst gehörte nicht zu dieser Klassengemeinschaft. Erst 1928 kam ich mit meiner Ostertüte über das Pflaster des Schulhofes. Auch mein Jahrgang wurde so auf die Platte gebannt, und es waren noch einige Gesichter mehr, die so hoffnungsvoll in die Optik des Fotografen schauten, nämlich 52 Schüler.

All denen, die später den Krieg und die Jahre der Gefangenschaft überlebten, sage ich herzliche Grüße. Nicht zuletzt grüße ich besonders herzlich meinen Freund John Werner Friedmann.

Hans-Joachim Gatzka

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