Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 1, Januar 2007

Meine Schlesienreise

3. Fortsetzung aus NGA 11/06

von Reinhard Stopa

Eine andere schöne Fahrt auf dem See

war in Richtung zu den kleinen Inseln, also in Längsachse des See’s. Diesmal war es eine sogenannte Ausflugsfahrt mit zwei Booten. Es war wohl eine Absprache zwischen den Ausbildern der beiden Boote. Großartige Manöver wurden nicht gefahren, sondern man suchte eine ruhige, nicht besonders einsehbare Stelle am Ufer hinter Laubegast, um in ausgelassener Weise zu schwimmen und zu toben. Die jungen Männer hatten ihren großen Spaß und freuten sich, dass es auch mal lockerer zugehen konnte. Einige, die keine Badehose dabei hatten, sprangen nach vorheriger Zustimmung ihrer Vorgesetzten auch ohne ein Textilteil, also im „Adamskostüm“ ausgelassen ins Wasser. Die ganze Angelegenheit war ein Ausgleich und eine kleine Belohnung für die eine Woche vorher geleistete Brandbekämpfung bei Rädchen.

Besuch am Schießstand

Fritz Hopp hatte mit mir eine günstige Zeit abgestimmt. An einem Tag, an dem früher als sonst Schulschluss war, ging ich zum Schießstand. Es war ja nur ein kurzer Weg von der Schule dorthin. Von der Straße in Richtung Laubegast ging rechts hinter der Schule ein Weg direkt zum Schießstand.
Am Schießstand herrschte Ruhe, aber konzentrierte Betriebsamkeit. Ich meldete mich beim Wachposten. Der war bereits informiert und ließ mich in Begleitung eines weiteren Postens den Unterstand aufsuchen. Ich hatte doch Respekt vor diesem Unternehmen, und im Unterbewusstsein war ein banges Gefühl vor möglichen Querschlägern. Meine Angst spielte ich herunter, denn ich wollte ja noch mehr sehen. Mit einem Mal fragte mich Fritz, ob ich Lust hätte, mit dem Karabiner zu schießen. Ich fand das sehr gewagt und erklärte, dass das Gewehr doch für mich viel zu schwer sei. Fritz Hopp lachte, nahm mir die Scheu und ermunterte mich, den ersten Schuss liegend auszuführen. Dann aber war das Problem der Munition zu klären, denn die Patronen waren für jeden Schützen zugeteilt und abgezählt. Man entschied folgendermaßen. Zwei gute Schützen gaben jeweils eine Patrone her, damit ich meine erste Schießübung durchführen konnte. Also, einmal liegend auf einer entsprechenden Liegevorrichtung und einmal stehend. Zweimal habe ich geschossen. Der Schießbeobachter am Ende des Schießstandes suchte die Treffer auf der Schießscheibe. Er fand sie aber nicht und zeigte dann durch Winken mit der Kelle an, dass ich jeweils eine Fahrkarte geschossen, also daneben gezielt hatte. Es war aber schon ein tolles Erlebnis. Nach diesem Abenteuer trat ich sofort den Heimweg an. Frau Weidner habe ich von dieser Schießübung nichts erzählt. Nur Dora wurde von mir, als sie zum Wochenende von Glogau nach ihrer Arbeitszeit wie üblich nach Hause kam, entsprechend informiert.
Dora und ich gingen miteinander immer sehr herzlich um. Wenn sie nach Hause kam, sprang ich sie förmlich an und fiel ihr um den Hals. Sie gab mir deshalb den Spitznamen „ Mopsel“, obwohl ich figürlich eher einem „Spargeltarzan“ ähnelte. Die Kadetten der Marine riefen mich natürlich nur beim Spitznamen, auch wenn sie mich gelegentlich im Städtchen sahen.

Vorweihnachtszeit und Weihnachten 1942 und Neujahr 1943

Anfang Dezember begann Frau Weidner im Haus die Weihnachtsbäckerei, und ich durfte fleißig mithelfen. Es roch so angenehm nach Gewürzen und Bäckerei. Die fertigen Plätzchen durfte ich auch probieren. Zu diesen Weihnachtsvorbereitungen kam allerdings auch die Spannung zum Nikolaustag und dann noch die Vorbereitung zu Doras Geburtstag, dem 07.Dezember. Ich erinnere mich, dass ich sehr aufgeregt war. Ich hatte mich in alle Aktivitäten mächtig eingeschaltet und dachte mir am Abend des 06. Dezember, den folgenden Schultag zu schwänzen. Aber daraus wurde nichts. Dora legte nachdrücklich und beispielhaft ihren Protest ein. Für solch einen Tag einfach die Schule zu schwänzen, das gab es bei ihr nicht. Alles Betteln nutzte nichts, ich musste an ihrem Geburtstag zur Schule.
An den Wochenenden, wenn Dora nach Dienstschluss aus Glogau mit dem Zug in Schlesiersee ankam, habe ich sie wintertags regelmäßig vom Bahnhof abgeholt. Damit sie den etwas einsamen Weg, hier insbesondere den Bereich zwischen Bahnhof und bis zu den ersten Häusern am Ortseingang im Dunkeln, nicht allein gehen musste. Ich fühlte mich als tapferer Begleiter schon recht wichtig.
Auch spielte ich oft und gerne als Nachrichtenüberbringer den getreuen Kurier für Dora und Fritz Hopp. Es gab ja nicht wie heute überall ein Telefon.

Die Vorweihnachtszeit war etwas erwartungsvoll, geheimnisvoll. Obwohl ich mitbekam, dass man ja in dieser Kriegszeit nur wenig oder aber auch nichts an Kleidung oder an Spielsachen für Kinder bekommen könnte, hatte ich doch die stille Hoffnung, etwas zu Weihnachten zu erhalten. Von Erwachsenenseite bemühte man sich, zumindest Kleinigkeiten zu bekommen.
Kurz vor Heiligabend bekamen Weidners von einem Fischer einen großen Fisch. Der Fisch war in einem Stück Fischernetz und grobem Packpapier eingewickelt und lebte noch bei seiner Anlieferung. Als Festtagsbraten war aber schon den Gänserich eingeplant. So wurde der Fisch, ich meine es war ein großer Karpfen, schnell an einen Geschäftsfreund verschickt.
An “Heiligabend“ stand kurz zur Debatte, wer abends oder wer morgens zum Weihnacht - Gottesdienst gehen sollte oder durfte. Ich durfte erst am nächsten Morgen mit in die ev. Kirche. Die Weihnachtsbescherung zu Heiligabend war doch recht feierlich. Der Baum war schön geschmückt, und Geschenke lagen auf dem Tisch und unterm Baum. Meine Mutter hatte mir in einem Paket zwei Bücher geschickt, wie: Erich Kästners „Emil und die Detektive“, und „Kalif Storch u. andere Märchen“. Außerdem sehr wertvoll, ein Paar hohe Schuhe. Aus Schlesiersee hatte ich ein Holzspielzeug, ein auf einem schrägen Barren nach unten rollender Turner aus Holz, ein mit schönen bunten Farben angemalter Akrobat. Es war sicher eine sorgfältige Heimarbeit. Ich erinnere mich, dass Frau Weidner eine schöne Stehlampe, z.T. Marke Eigenbau von Sohn Fred geschenkt bekam. Der von uns Kindern so sehr gewünschte Schnee kam erst gegen Neujahr. An dem Sonntag nach Neujahr, einem sonnigen aber recht kalten Tag, ging die ganze Familie mit mir zum Rodelhang.
(Im Volksmund Schindergruben genannt?)
Es waren sehr viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene am nahen Ski- und Rodelhang. Mit einem Mal kam Fred Weidner mit seinen Freunden auf Skiern daher. Ich staunte nicht schlecht. Er hatte mir vorher darüber nichts verraten und auch nicht gesagt, dass Schlittenfahren für ihn nicht mehr altersgemäß sei. Alle hatten wir mächtig Spaß an diesem Sonntagnachmittag.
An den nächsten Tagen beschränkten Manfred Kohlhoff und ich unsere Schlittenfahrten auf den Bereich Gärtnerstraße. Hugo Scheudienst hatte uns je zwei starke Stecken gegeben, mit denen wir uns auf dem Schlitten sitzend, ähnlich wie auf Skiern abstoßen konnten. Er hatte unten je einen Nagel als verstärkte Spitze eingeschlagen. So hatten wir es bequemer mit dem Schlittenfahren auf der Straße, die etwas Gefälle hatte.
Schneeballschlachten mit Nachbarskindern bei Kutzner und Nitsche, die sich auch eine kleine Schneehütte gebaut hatten, waren natürlich von beiden Seiten die Herausforderung. Es war dann immer was los auf der Straße, seitdem die „Bottroper Jungen“ dort eingetroffen sind.
Ehepaar Scheudienst hatte einen aufmerksamen und wild bellenden Hund. Der mochte mich anfangs nicht. Es dauerte schon eine gewisse Zeit, bis der mich akzeptierte. Manfred Kohlhoff und Frau Scheudienst mussten mir erst Mut zusprechen und gleichzeitig den Hund beruhigen, wenn ich zu Besuch kam.
Manchmal gab es auch verbale Auseinandersetzungen zwischen uns und den Kindern, die an der oberen Gärtnerstraße wohnten. Diese Kinder sahen etwas vernachlässigt aus, wir nannten sie „Volksdeutsche“. Ich meine, diese Kinder gingen nicht zur Schule.

KLV Lager im Schloss

Im Spätherbst 1942 reiste eine größere Gruppe Mädchen aus Berlin - Neukölln an. Diese Schulkinder zogen geschlossen ins nahe Schloss ein. Es waren Mädchen von etwa zwei Gymnasialklassen, einem Lyzeum. Sie hatten ihr Lehrpersonal dabei und wurden von ihnen auch dort in den Räumen des Schlosses unterrichtet. Gelegentlich sind wir den Mädchengruppen im Städtchen oder im Schlosspark begegnet. Sie waren nett anzusehen und brachten durch ihr Erscheinen etwas mehr Farbe ins Straßenbild, sie gefielen uns.
Am 2.Weihnachtstag gab es in einem Saal einer Gaststätte nahe der Kirche einen öffentlichen Unterhaltungsabend. Ich durfte aus Altersgründen (erst 8 Jahre) nicht hin. Aber Dora, Frau Weidner und andere erzählten mir hinterher, dass doch etliche Kinder in meinem Alter dort gewesen seien und der Abend sehr schön war, ich hätte doch eigentlich gut mitgehen können, stellten sie im nachhinein fest. Manfred Kohlhoff war mit seinen Gasteltern Scheudienst auch dort, und er erzählte mir freudig davon, wie ihm besonders der Auftritt der Berliner Mädchen mit ihrem Tanz in dünnen, fast durchsichtigen Kleidchen gefallen habe. Na ja, ich war nicht dabei, habe sie und die Veranstaltung nicht sehen dürfen.
Diese netten, jungen Schulmädchen mussten bereits Mitte März 1943 wieder zurück nach Berlin fahren.

Kriegsberichte

Mit Weidners Radiogerät kannte ich mich gut aus. Wir hörten regelmäßig die angebotenen Sendungen. Sonntags Nachmittag liebend gern das Wunschkonzert. An den Abenden standen die Nachrichten im Vordergrund, auch die der deutschen Sender aus Polen, Litauen, Ungarn, Slowakei, Tschechien und Rumänien. Im Dezember 1942 waren die Frontberichte über Stalingrad sehr besorgniserregend. Ich habe mitbekommen, als sich Erwachsene hierzu unterhielten und dazu meinten, dass man den deutschen Siegeshoffnungen nicht mehr recht zustimmen könne. Es war schon sehr bedrückend.
Auch Nachrichten über Fliegerangriffe der Alliierten im Westen wurden aufmerksam am Radio verfolgt. Ich machte mir Sorgen um meine Familienangehörigen.
In Schlesiersee kamen ständig neue Einberufungsbescheide, womit die jungen Männer zu den Waffen gerufen wurden. Es stellte sich für die betreffenden Männer die Alternative: wartest du, bis du eingezogen wirst, dann musst du dahin, wo man dich halt hinbeordert, oder du meldest dich freiwillig zu der gewünschten Waffengattung.
So kam es auch, dass Fred Weidner sich zu den Fliegern meldete. Ab April 1943 ging er zu den ersten Lehrgängen. Ich hatte einmal in dieser Zeit für einen Botengang von der Tochter der Familie „Cafe“ Olech als Belohnung ein Päckchen Kekse bekommen. Diese Kekse habe ich nicht für mich beansprucht, sondern schickte sie in einem Feldpostpäckchen an Fred, damit er beim Segelfliegen auch an mich denken konnte, so meinte ich. Fred habe ich dann nur noch zweimal vor meiner Abreise im Mai 1943 gesehen.

Lausbuben 1. Teil

Nun noch mal zurück an die Anfangszeit in Schlesiersee.
In der ersten Woche in Schlesiersee, Anfang September 42, hatten wir Bottroper Jungen in der Schule, wo wir uns ja zwangsläufig wiedersahen, zu einem gemeinsamen Treffen am Seeufer aufgerufen. Unsere Gasteltern hatten ihr Einverständnis zu diesem Treffen gegeben. Es war der erste Sonntagnachmittag nach unserer Ankunft. Insgesamt etwa 8 Jungen hatten sich am Badestrand am See getroffen. Zunächst erzählte man von den ersten Eindrücken über Schlesiersee und seinen Bewohnern. Der eine oder andere Junge konnte oder wollte sich in Schlesiersee der Gastfamilie nicht richtig anpassen. Sie hatten wohl Frust und Heimweh, ihre Erzählungen waren entsprechend. Sie sprachen davon, dass sie ihren Eltern schreiben wollten, sie wieder schnell nach Bottrop zurück zu holen.
Beim Erzählen an der Landungsbrücke angekommen, sahen wir an dem niedrigen Seitensteg etliche Ruderboote, die dort auf dem Wasser im leichten Wellenspiel schaukelten. Sie waren mit Seilen an Pfosten angebunden, sodass wir sie vom Steg her leicht lösen konnten. Einige von uns kletterten zunächst vorsichtig abwechselnd in die Boote, und wir trauten uns alsbald auch durch Anschieben der Boote, ihre Liegeposition zu verändern. D.h., wir fuhren kurze Strecken auf dem Wasser. Die Zeit verging schnell bei diesem Treiben, und wir mussten an den Heimweg denken. Aber bevor wir diesen antraten, kam man auf die unsinnige Idee, die Taue endgültig zu lösen und die Boote auf den See hinaus zu schieben. Ich erinnere mich an ein rotes, gelbes und blaues Boot. Ich hatte bei dieser Aktion als eigentlich passiv Beteiligter kein gutes Gefühl. Zu Hause angekommen wurde hiervon nichts erzählt.
Die anderen Bottroper Jungen sind uns im Laufe der nächsten Wochen nur noch gelegentlich in der Schule begegnet und auf einmal gar nicht mehr. Wir hörten dann, dass sie bereits wieder nach Hause abgereist seien. Für Manfred und mich war diese Sache damit abgeschlossen.

Nun geht es mit den Booten weiter.

Einige Wochen später, etwa Ende November sahen wir das rote Boot wieder. Es war im Schlepptau eines Fischerbootes. Die Fischer hatten es auf dem See während ihrer Arbeit gefunden und zogen es, tief im Wasser hängend, hinter sich her zum Fischereihafen.
Bei unseren Ausflügen strolchten wir häufig am Seeufer durchs Schilf. Dabei versuchten wir, vorsichtig mit unseren Füßen von Staude zu Staude hüpfend, festen Stand zu finden. Manchmal ging das auch daneben. Unsere nassen Schuhe und die an unseren Jacken haftenden Samenstände der Schilfdolden verrieten immer wieder unsere Ausflüge. Bei unseren Aktivitäten begegnete uns kaum jemand. Einmal nahm vor uns im Wasser ein Aal Reißaus, es konnte nach unserer Meinung auch eine Seeschlange gewesen sein. Das schlangenähnliche Tier erschreckte uns mächtig.
Bei einem unserer Wanderungen durchs Schilf stießen wir überraschend auf ein im Wasser versunkenes Ruderboot. Wir erkannten in ihm „das gelbe“ Ruderboot. Es hatte viel Wasser genommen und schaute nur noch ein wenig über dem Wasserspiegel heraus. Schade, wir konnten es nicht bergen.

Ein beliebter Spielplatz

war für uns kurzfristig ein Strohschober nahe einer Windmühle auf dem Hügel, rechts oberhalb der Gärtnerstraße - Fraustädter Straße, in Richtung zur Rodelbahn. Wir erkletterten den Strohschober und bauten uns darin eine Bude. Es war unangenehm kalt. Der Wind zauste uns an der Kleidung, sodass wir uns gerne in die Strohhütte verkrochen. Manchmal gingen unsere Gespräche in Richtung Ruhrgebiet, unsere Heimat, zu unseren Eltern und Familien. Aber das waren nur kurze Gedanken. Heimweh hatten wir im eigentlichen Sinne nicht.
Auch unterhielten wir uns über: Schule, Lehrer, Mitschüler, Hausaufgaben usw.
Dann kam die Erkenntnis, dass wir ja außerhalb der Schule sonst keinen freundschaftlichen Kontakt mit anderen Kindern aus Schlesiersee hatten. Außer dass wir mit Kindern an der Gärtnerstraße einige Schneeballschlachten austrugen, und als der Schnee geschmolzen war, uns Kinder von Kutzner und Nachbarschaft mit langen Bohnenstangen traktierten. Wir zerbrachen uns gegenseitig die morschen Hölzer, mit denen wir aufeinander losgegangen waren. Ich brauchte zu Hause nichts zu erzählen. Hugo Scheudienst, der uns ohne unser Wissen gelegentlich beobachtet hatte, erzählte es mit Schmunzeln am nächsten Morgen Adolf Weidner im Laden. Oder Adolf Weidner konnte uns von seinem Laden aus auch beobachten und wusste über unser Treiben Bescheid.
Aber zurück zu der vorher beschriebenen Strohhütte und zu unserem Unterhaltungsthema.
Wir sprachen davon, wen wir denn am besten aus unserer Klasse leiden mochten. Die Jungen kamen nicht in Frage. Wir hatten dann mehrere Mädchen namentlich nacheinander erwähnt, aber zum Schluss einigten wir uns auf Marianne Baumert.
Nun entwickelten wir den Plan, wie wir am besten mit ihr außerhalb der Schule Kontakt aufnehmen könnten. Manfred machte den Vorschlag, sie doch einfach zu Hause zu besuchen und zwar sofort. Ich fragte ihn, ob er denn wüsste, wo unsere Marianne wohne. Ja, sagte er und zeigte dabei über die Fraustädter Straße hinweg in Richtung Pürschkauer Straße. Das war mir zu unsicher, und ich fragte ihn weiter, was das denn für ein Haus sei, wonach wir suchen müssten. Er antwortete, und hier bin ich mir nicht sicher, ob er Bauernhof oder Bauhof sagte. Jedenfalls zögerte ich und gab zu bedenken, was denn ihre Eltern, ihre Mutter sagen würde, wenn wir mit einmal dort vor der Tür stehen und nach Marianne fragten.
Mir fiel auch kein plausibler Grund ein, was wir sagen sollten. Ganz einfach, wir hatten auf einmal Hemmungen. Der Besuchswunsch wurde kurzfristig auf einen uns günstiger erscheinenden, unbestimmten Termin verschoben. Leider blieb es dabei! Auch wurden wir an diesem Nachmittag in unserem Gespräch vom Besitzer des Strohschobers entdeckt und vertrieben. Dort trauten wir uns nicht mehr hin.
Dass Manfred wusste, wo Baumert`s wohnten, glaube ich ihm im Nachhinein. Mit Hugo Scheudienst muss er mindestens einmal dort gewesen sein. Denn wir hatten uns in einer Scheune bei Scheudienst auch eine Strohhütte gebaut und erlaubten uns den Luxus, ein Fensterloch in die Seitenwand der Scheune zu brechen. Das ging relativ leicht, weil die Fachwerkfüllung aus Lehm und Feldsteinen an einer Stelle leicht herauszunehmen war.
Der Bauer auf dem Nachbarhof an der Gartenstraße, der direkt angrenzte, hatte das wohl gesehen und Hugo Scheudienst entsprechend informiert. Es gab Ärger für uns. Ich traute mich ca. 3 Wochen nicht nach Scheudienst, und ich musste mich wegen meiner Mittäterschaft entsprechend entschuldigen. Hugo Scheudienst ging anschließend zu einem Handwerker, wo er die Reparatur der Fachwerkfüllung bestellte. Manfred musste zwecks erzieherischer Maßnahme mit bei dem Gespräch sein. Dieses Gespräch fand wohl bei Baumert statt. Ich war froh, dass ich nicht auch mit musste.
Gelegentlich sahen wir auch nur einfach einem Handwerker zu. Das war bei einem Schmied in der Gartenstraße und zwar gerne, wenn Pferde mit neuen Hufeisen beschlagen oder auch Eisenreifen auf Wagenräder aufgezogen wurden. Interessant fanden wir, wie die Hufe beschnitten und die heißen Eisen den Hufen angepasst wurden. Die Pferde hielten das meist geduldig aus. Nur manchmal machten sie dem Gesellen Ärger, wenn sie den zu bearbeitenden Huf wieder auf die Erde setzen wollten. Es war schon eine harte, eine schwere Arbeit.

Ein schöner Hochsitz

Hinter Weidners Landwirtschaft entdeckten wir einen ruhigen, von anderen nicht so leicht einsehbaren Bereich. Hinter der südlich gelegenen Scheune wuchsen einige alte Kopfweiden. Einen Baum, den wir gut erklettern konnten, suchten wir uns aus, um uns darauf einen Aussichtsstand zu bauen. Erst mussten einige kleinere Äste aus der Kopfmitte mit einem Taschenmesser abgeschnitten werden. Damit schafften wir genügend Platz für unseren Sitzplatz. Für diesen und für eine Rückenlehne benötigten wir Bretter. Nun lagen an der Scheune einige verwitterte, alte, abgebrochene Bretter. Man konnte sie gut passend durchbrechen. Ich reichte sie Manfred nach oben in den Baum. Er griff zu und au weh, er hatte sich dabei einen etwa 5 cm langen Holzspan in die Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger gestoßen. Das sah böse aus. Der Span steckte in dem Hautgewebe von unten und schaute aus der Handoberfläche oben wieder heraus. Ich wollte helfen und ihm diesen Span herausziehen. Er ließ sich aber nicht helfen und jammerte vor Schmerzen. Außerdem hatte er Angst, nach Hause zu gehen, weil er Schimpfe und Vorwürfe für dieses Missgeschick befürchtete. Wir besprachen diese Angelegenheit über eine längere Zeit und mussten zu guter Letzt doch nach Hause, weil es schon dämmerte. Ich begleitete ihn bis an die Hoftür. Am nächsten Tag befragte ich ihn, wie er denn alles überstanden hätte. Er berichtete mir, dass es gar nicht so sehr geschmerzt hätte, als Hugo Scheudienst ihn vom großen Holzsplitter befreite. Er brauchte nicht zum Arzt, Herr und Frau Scheudienst hätten ihn auch liebevoll betreut und getröstet.

Unfall eines Bauern.

Es war etwa Anfang März 43 an einem Werktag zur Mittagszeit. Plötzlich trommelte jemand sehr heftig ans Küchenfenster. Eine Frau hatte versucht, Adolf Weidner im Laden zu erreichen. Wegen der Mittagspause war das Geschäft aber noch geschlossen, sodass sie ans Küchenfenster klopfte. Sie bat eindringlich um Hilfe.
Ein Pferdegespann, der Wagen mit Baumstämmen beladen, stand auf der unserem Haus gegenüberliegenden Straßenseite, ungefähr an der Einfahrt zum Schützenhof. Oben auf den Stämmen, etwas gepolstert auf Tannenzweigen, lag ihr Mann. Er hatte große Schmerzen. Sein rechtes Bein war gebrochen. Beim Verladen der Stämme im Wald war es passiert. Mit Hilfe eines Pferdes und Einsatzes von Ketten hatte er mit seiner Frau die Stämme auf den Wagen gehebelt. Bei dieser Aktion ist er unglücklich zwischen zwei abrollende Stämme geraten. Dem Ehepaar war wohl bekannt, dass Adolf Weidner vom ersten Weltkriege her Sanitätsausbildung hatte. Darum bat die Frau ihn, doch bitte zu helfen. Der Verletzte trug auffallend gute Schaftstiefel mit weichem Leder. Sein verletztes Bein war bereits stark geschwollen, und vermutlich handelte es sich hierbei sogar um einen offenen Bruch. Adolf Weidner holte seine Sanitätstasche und offenbarte dem Verletzten, dass zunächst der Stiefelschaft aufgeschnitten werden muss, um den Stiefel vollends ausziehen zu können. Damit würde der Druck genommen, der Schmerz etwas gelindert, und anschließend könnte er das Bein für den Weitertransport versorgen und schienen. Jetzt protestierte der Bauer wegen seines Stiefels. Adolf Weidner erklärte ihm, dass ein Arzt mit dem Stiefel auch nicht anders verfahren würde. Der Bauer erklärte sich schließlich schweren Herzens bereit mit der von Adolf Weidner vorgeschlagenen Vorgehensweise. Von da ab wurde ich als jüngster Zuschauer des Feldes verwiesen. Kann nun leider nicht berichten, was weiter geschah.

Lausbuben 2. Teil

Es war im Frühjahr 1943.
Nach einem unverhofft früheren Unterrichtschluss in der Schule gingen wir nicht sofort nach Hause, sondern wir nahmen den Weg oberhalb der Schule herunter direkt zum See, um uns die überraschend gewonnene Zeit damit zu vertreiben, das gelbe Ruderboot am Seeufer im Schilf wieder für uns flott zu machen. Mit einem alten Eimer und einer Blechbüchse wurde emsig das Wasser ausgeschöpft und das Boot schrittweise in flacheres Wasser gezogen. Es war ein hartes Stück Arbeit, bis wir es schwimmfähig hatten. Natürlich war es nicht mehr dicht, es drang fortwährend Wasser durch Ritzen im Bootsboden. Es war für uns aber doch eine große Freude, dass wir uns hineinsetzen und mit Hilfe von zwei Brettern als Paddel um den Landungssteg herum, an Sprungturm und Rutsche vorbei in Richtung zum Fischereihafen fahren konnten.
Während der ganzen Zeit musste einer von uns ständig das eindringende Wasser mit der Büchse ausschöpfen. Vor dem Fischereihafen war ein schöner, etwas gebogener Sandstrand, der vom Badestrand aus nicht so leicht einsehbar ist. Außerdem war dieser Teil auch noch von Schilfbestand verdeckt. In der Annahme, dass niemand unser Fahrzeug entdecken könne, zogen wir den Kahn ans Ufer und traten den Heimweg an. Hier begegneten uns dann Schulkameraden u.a. auch „unser“ Harald, den wir nach der Uhrzeit befragten. Er sagte uns, dass es schon weit nach Mittag sei. Alle wunderten sich über uns, weil wir noch die Schultornister bei uns hatten, und sie grinsten uns vielsagend an. Wir verabschiedeten uns, und unsere Schritte wurden automatisch schneller. Zu Hause gab es natürlich den massiven Hinweis über Sorgen, die wir durch unser Verhalten und Zuspätkommen ausgelöst hatten. Ergebnis: drei Tage Stubenarrest, wovon ich nur einen Tag tatsächlich absitzen musste.

Vom gelben Boot wollten wir aber nicht lassen.
Ein, zwei Wochen später führte uns unser Weg wieder zum Seeufer. Aber unser Boot war nicht mehr aufzufinden. Als Angebot zu einer kleinen Reise auf dem Wasser lag an etwa der gleichen Stelle, wo wir das Boot zurückgelassen hatten, eine alte Holztür. Wir zogen unsere Schuhe aus. Manfred stellte sich auf die Tür und balancierte mit ihr auf dem Wasser. Es kam, wie es kommen musste. Manfred verlor sein Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Was nun machen? Ich lachte über dieses Missgeschick, denn ich war noch nicht aktiv beteiligt, weil ich nicht ins Wasser gehen wollte. Ich trug noch zwei Pflaster wegen meiner Brandverletzungen. Manfred war böse mit mir, und um ihn aufzumuntern, stieg ich auch aufs Türblatt, hampelte auffällig darauf herum, bis auch ich ins Wasser fiel. Nun hatten wir beide das gleiche Problem. Manfred hatte wohl meine Absicht erkannt, mich mit ihm und seinem Problem solidarisch zu zeigen. Die Witterung war schon mild und die nassen Sachen wurden ausgezogen, ausgewrungen und zum Trocknen auf die Schilfhalme gehängt. Jetzt konnten nur noch starke Sonnenstrahlen mit viel Wärme uns helfen. Aber es dauerte und dauerte. Die Sachen verloren nur unmerklich ihre Feuchte. Mit Erzählen, Wasserrinnen bauen und immer wieder den Trocknungsvorgang der nassen Hosen prüfend, vertrieben wir unsere Zeit. Als wir merkten, dass die Sonne keine Kraft mehr hatte, es war schon später Nachmittag, gingen wir schweren Herzens nach Hause. Daheim habe ich nichts von unserem neuen Abenteuer erzählt. Ich konnte meine nasse Hose und das Oberhemd vor dem Schlafengehen gut auf dem Stuhl im Schlafzimmer verdeckt unterm Tisch verstecken, sodass ich nicht auffiel. Die nasse Unterhose und das zum Teil nass gewordene Unterhemd behielt ich an, sie konnten ja nach meinem Verständnis über Nacht am Körper trocknen. Am nächsten Morgen waren Oberhemd und Hose noch etwas klamm, als ich sie tapfer wieder anzog. Die Feuchte konnte ich sogar noch riechen und befürchtete, dass Frau Weidner es beim Frühstück auch bemerken könnte. Aber nichts dergleichen, ich hatte noch Glück.
Die Stunden in der Schule und die Körperwärme reichten jetzt aus, die Sachen zu trocknen. Für mich war soweit alles glimpflich verlaufen. Tja, als ich aber nach Hause kam, hörte ich, dass Hugo Scheudienst morgens in Weidners Laden schon alles erzählt hatte. Nun musste ich die Strafpredigt mit dem gut gemeinten Rat hören, doch das Unglück besser sofort am Abend vorher zu beichten. Die Sachen wären ordnungsgemäß getrocknet worden. Jetzt bestünde die Gefahr, mir eine Erkältung zugezogen zu haben. Aber ich wurde nicht krank.
Ich bekam diesmal keinen Stubenarrest, musste aber Besserung geloben.
Überhaupt, das Klima und die bessere Luft in Schlesiersee bekamen mir sehr gut. Ich war in Schlesiersee nie krank.
Ich glaube, unsere Gasteltern hatten es mit uns nicht leicht. Immer wieder mussten sie mit einer Überraschung bei uns rechnen. Sie konnten erzieherisch nicht so verfahren, wie man es bei eigenen Kindern macht und wie wir es von zu Hause aus kennen. Das hatten wir gefühlsmäßig wohl so empfunden. Bei uns benötigte man Geduld und besonderes Verständnis, was uns auch meistens gewährt wurde.
Frau Weidner sagte mir mal, dass ich nicht so schlimm sei und auch bitte nicht werden sollte, wie ein Junge ihrer Verwandtschaft aus Berlin. Der sei im Jahr zuvor bei ihnen gewesen und habe als besondere Spitzenleistung, bei einem Bauern auf dem Jauchewagen in bester Kleidung mitfahrend, freudig alle Hilfsarbeiten ausgeführt. Er und seine Kleidung dufteten entsprechend, sodass gründliche Kleiderreinigung und Ganzkörperwäsche erforderlich waren.

Unangenehme Begegnung – bittere Erfahrung.

In der Nähe, Ecke Garten- / Fraustädter Straße, stand meines Wissens nach eine Litfasssäule.
Die Säule betrachteten wir hin und wieder wegen der dort aufgeklebten Plakate. Es waren schon mal Plakate mit Kinoreklame, z. B. Zarah Leander, oder einem Bild eines jungen Soldaten mit entschlossenen und markanten Gesichtszügen zu sehen. Egal aus welchem Blickwinkel wir diese Gesichter betrachteten, sie schauten uns immer direkt an. Es war für uns verblüffend und irgendwie fantastisch.
Bei einem dieser Betrachtungen wurden wir von einem Jungen unseres Alters, er wohnte direkt schräg gegenüber der Litfasssäule, verbal attackiert. Wie das so ist in solchen Fällen, wir ließen uns das nicht bieten und schimpften zurück. Unser Gegenüber nicht faul, griff nach Steinen und schleuderte sie gegen uns. Wir trauten uns nicht, zurück zu werfen, sondern nutzten einen günstigen Moment, ihn zu erschrecken. Als er sich nach neuen Wurfgeschossen bückte, liefen wir ihm überraschend entgegen. Er erschrak tatsächlich und lief zurück aufs elterliche Grundstück. Das Haus hatte einen Vorgarten und war an der Straßenfront mit gemauerten Säulen, Gartentor und Holzzaun eingefasst. Ich wollte ihm weiteren Schrecken einjagen und lief ihm bis zu den Stufen am Hauseingang nach. Als ich mich umdrehte, um wieder zurückzugehen, war das nicht mehr möglich. Seine Mutter verstellte mir plötzlich den Weg. Sie war für mich unbemerkt von der Seite aus dem Vorgarten gekommen, packte mich am Arm und zerrte mich wütend ins Haus. Sie ließ meine Erklärung nicht gelten und drohte mir mit dem Schäferhund, wenn ich die Flucht ergreifen würde. Ich rief meinem Freund Manfred zu, er möge mir Hilfe durch Adolf Weidner holen. Manfred ging los, als er merkte, dass hier Ernst gemacht wurde und ich so schnell nicht wieder frei komme.
Ich schielte auf die Haustür und sah, dass sie nicht verschlossen war. Diese Frau sah meinen Blick, überlegte kurz und sperrte mich kurzerhand in den direkt im Hausflureingangsbereich befindlichen Kellerabgang. Sie ging fort, ihr Sohn stand vor der verschlossenen Kellertür. Ich bat ihn eindringlich, die Abwesenheit seiner Mutter zu meinem Gunsten zu nutzen und mich frei zu lassen. Es nutzte nichts, er ließ sich nicht darauf ein, und seine Mutter kam jetzt tatsächlich mit dem Schäferhund. Der knurrte gefährlich und zeigte seine Zähne. Ich war bis zum Weinen eingeschüchtert. Die Haustür hat sie abgeschlossen und den Schlüssel abgezogen. Sohn und Mutter gingen alsbald zum Mittagstisch. In den Flur durfte ich nach einiger Zeit zurück, aber der Hund bewachte mich sehr aufmerksam. Manfred kam nach unendlich langer Zeit wieder zurück und stand vor dem Gartentor. Er rief mir von der Straße aus zu, dass Adolf Weidner nicht kommen würde. Jetzt war guter Rat teuer. Im Nachhinein wurde mir klar, dass Adolf Weidner als Geschäftsmann sich wegen Kinderstreits nicht mit einer möglichen Kundin streiten wollte. Als ich mit dem Jungen mal wieder allein war, redete ich auf ihn ein und erklärte ihm, dass zwischen uns doch eigentlich nichts Böses sei. Er solle doch auch sein vorheriges Verhalten uns gegenüber berücksichtigen. Er sei doch an dieser Situation nicht schuldlos. Nach einigem Zögern sah er es ein, ging zu seiner Mutter und erreichte nun nach langer Zeit meine Freilassung. Für mich war das alles eine äußerst demütigende Erziehungsmethode.
Litfasssäule und seine Umgebung haben wir fortan gemieden.

Badestrand

Mit wärmer werdender Jahreszeit kam auch der Wunsch, sich am Badestrand aufzuhalten, um im See zu baden und zu schwimmen. Natürlich ging ich auch mit Dora und Fritz einige Male an den See zum Schwimmen. Aber es ist ja so was mit den Anfängern. Ich wurde aufgefordert und stark ermuntert, keine Angst zu haben und fleißig die vorgeführten Schwimmzüge zu üben. Ja, es ging nachher schon recht gut. Zur Not hatte man ja noch hin und wieder Kontakt mit einem dicken Zeh zum Boden. Etwas störend empfand ich, dass durch den Badebetrieb dunkler Sand oder sonst am Boden liegende schwerere Schwebeteilchen aufgewühlt wurden. Somit war der Seeboden nicht mehr zu sehen, und für Schwimmanfänger verursachte das ein zusätzliches Unsicherheitsgefühl. Ich zeigte aber gute Fortschritte, und das machte Spaß auf mehr. Ich war und blieb eine sogenannte „Wasserratte“.

Abschied

Mitte Mai 43 kam kurzfristig der Bescheid für unsere Heimreise nach Bottrop. Ich wollte nicht nach Hause. Weidners brauchten einige Zeit und Überredungskunst dazu, mich mit der geplanten Rückreise vertraut zu machen und mein Einverständnis zu erreichen. Nur wenige Tage hatten wir, uns darauf vorzubereiten. Ich hätte auf besonderen Antrag hin auch in Schlesiersee bleiben können. Aber die Zeit war für eine Regelung mit meinem Elternhaus und mit den Amtsstellen einfach zu kurz. Weidners und ich trafen folgende Vereinbarung: ich fahre zunächst mit dem Transport nach Hause und kläre mit meinen Eltern eine mögliche Rückkehr auf privater Basis. Mit diesem vorläufigen Beschluss begannen die Rückreisevorbereitungen.
Einen Tag vor unserer Abreise bekamen Manfred und ich noch ein besonderes Geschenk. Fritz Hopp hatte uns zu einer Fahrt mit einem Faltboot auf den See eingeladen. Es war ein schöner sonniger Morgen, als Fritz uns ins Zweisitzerboot einlud. Wir saßen zu zweit vorne im Boot, Fritz hinter uns. Es war etwas eng, aber wir genossen die schöne Fahrt mit Fritz auf dem See. Diesmal war es eine andere Perspektive, der Wasserfläche waren wir näher als sonst in den großen Marinebooten. Großen Spaß hatten wir, es war eine ausgiebige Rundfahrt. So kamen wir auch am Fischereihafen vorbei und verweilten dort ein wenig. Dann sahen wir etwas, was uns doch sehr erfreute. Auf der Fischereianlage sahen wir „unser gelbes“, neben dem „roten“ und anderen Booten liegen. Fritz amüsierte sich über unsere freudigen Ausrufe. Er kannte unsere Geschichten. Da er uns gelegentlich geschickt zum Erzählen ermunterte, war er immer direkt informiert und wir unter besonderer Kontrolle.
Zur Mittagszeit endete unsere besonders schöne Bootsfahrt. Wir stiegen am Landungssteg nahe dem Bootshaus aus, und Fritz begleitete uns zwei noch bis zum Hauptweg zwischen Seehotel und Strandhaus. Wir standen im spärlichen Schatten der dort wachsenden Kiefern. Etwas nachdenklich und schweren Herzens verabschiedete ich mich von Fritz Hopp. Bevor ich ging, sagte er, und er schaute mich dabei bedeutungsvoll an: „Auf Wiedersehen Mopsel, denk daran, du willst wiederkommen“ und drückte Manfred und mir je eine glänzende Geldmünze in die Hand. Diese Münze habe ich auch viele Jahre in Erinnerung an Fritz aufbewahrt.
Im Herzen war ich aufgewühlt. Ich empfand den Abschied mit Wehmut. Wir waren so gute Freunde geworden und hatten einen so schönen Vormittag miteinander verlebt. In Erwartung schloss sich natürlich auch die bevorstehende Heimreise in den nächsten zwei Tagen an, sowie das Wiedersehen mit der eigenen Familie zu Hause. Was mag uns daheim erwarten, und darf ich auch in den Sommerferien wieder nach Schlesiersee zurückfahren?

Abreise

Am nächsten Morgen, ich meine es war Pfingstmontag, gingen Dora, Adolf Weidner und ich zum Marktplatz. Mein Freund Manfred war schon dort und ein anderer Junge, den ich aber nicht kannte. Dora machte noch einige Erinnerungsfotos. Schon bald kam der Bus, und wir mussten uns verabschieden. Der Bus brachte uns bis zum Glogauer Bahnhof. Von dort ging es mit der Reichsbahn in einer 24 Stundenfahrt zurück ins Ruhrgebiet, zurück nach Hause.

Nachbetrachtung: Wiederkehr?

Mein Vorhaben, nach Schlesiersee zurückzufahren, scheiterte, weil mein Freund Manfred nicht mehr mit zurück durfte. Seine Eltern hatten sich für ihn, seine Geschwister und in Begleitung seiner Mutter für eine Evakuierung nach Bayern entschieden.
Allein sollte ich nicht nach Schlesien zurückreisen.
Bis zum Herbst 1944 hatte ich mit Dora noch brieflichen Kontakt. Danach haben wir, bedingt durch die schlimmen Kriegsfolgen, nichts mehr voneinander gehört.
Nach Kriegsende, im Sommer 1946, hat meine Mutter einen Brief an die uns bekannte Adresse nach Schlesiersee geschrieben, aber dieser Brief kam nach langer Zeit als unzustellbar zurück.
In Gedanken war ich immer wieder in Schlesiersee. Es ist dem Leser dieses Gefühl sicherlich nicht fremd, sich an Begebenheiten, an eine Zeit, an Menschen und an eine Landschaft, die man mag, gerne zu erinnern. Ist es Fernweh’, Heimweh?
Mir kamen in zeitlichen Abständen immer wieder die Erlebnisse in Schlesiersee bildlich vor Augen. Ja sogar die Gerüche, wenn wir z. B. in einen Wald gingen, wo die Bäume frisch geschlagen, oder am Sägewerk an der Glogauer Straße, wo Nadelholzbaumstämme in der Sonne lagerten, sie dufteten wunderbar nach Harz und frischem Holzschlag. Auch der See hatte für mich immer einen frischen, angenehmen Geruch. Oder die Bäckereien verbreiteten im Städtchen morgens, wenn wir zur Schule gingen, den angenehmen, guten Duft frischer Backwaren. Selbst die Brennerei am kleinen Flüsschen zeigte durch ihre strenge Geruchwolke ihre besondere Bedeutung an. Auch der kleine Schreibwarenladen an der Bahnhofstrasse hatte seine eigene Atmosphäre, wie auch beim Friseur, wenn ich als Zeitplatzhalter für Dora oder Frau Weidner dort war, oder auch die Frische im Milch- und Käsegeschäft.
Das alles ist mir in Erinnerung geblieben!

Wiedersehen

Im Jahr 1975, also 32 Jahre nach meiner Abreise aus Schlawa, konnte ich mein Versprechen:
„Auf Wiedersehen“ tatsächlich wahr machen. Dora hatte mich ausfindig gemacht und zunächst telefonisch versucht, sich möglichst anonym haltend, die Richtigkeit des Telefonanschlusses zu prüfen. Meine Schwiegermutter hatte das Gespräch angenommen und konnte mir zu der Gesprächsteilnehmerin keinen Namen nennen.
Ohne dass Dora ihren Namen nannte, habe ich sie sofort nach den ersten zwei, drei Worten an ihrer Stimme erkannt.

> Es war für mich eine unbeschreibliche Freude nach so langer Zeit ein Lebenszeichen von Weidners zu hören. <

Ich habe Dora sofort beim Schlesiertreffen zu Pfingsten in Essen getroffen und bin im Juni 1975 nach Murrhardt gefahren, um Dora und Fritz Hopp, sowie Bertha und Adolf Weidner zu besuchen. Ein sehr freudiges Wiedersehen mit lieben Menschen, zumal ich all die Jahre vorher befürchtete hatte, sie durch schlimme Kriegseinwirkungen verloren zu haben.

Große Freude

Beim „Schlawa’ er- Treffen“, 11. /12. September 2004 habe ich, für mich ganz überraschend, zwei ehemalige Mitschülerinnen wiedergetroffen, und zwar Marianne Baumert und Ursula Stelter. Die beiden konnten sich an mich natürlich nicht erinnern. Ich habe damals auf sie in Schlawa keinen nachhaltigen Eindruck gemacht. Aber als wir ins Erzählen kamen, hat sich Marianne doch sehr gewundert über mein Wissen und Erinnern an gemeinsame Stunden in Schlesiersee und hat das von mir Erzählte uns beiden betreffend, staunend bestätigt.
Gehofft hatte ich immer, nachdem mich Dora wiedergefunden hatte, dass ich auch mal ehemalige Mitschüler wiedersehen würde. Diesmal hatte es geklappt.
Ich habe in Alfeld das von mir „erhoffte“ Wiedersehen mit großer Freude genossen.

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