Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2008

Alltag einer Adelsfamilie auf dem Rittergut im Kreis Glogau

von Prof. Dr. Ferdinand Urbanek

Als typischer Stadtjunge hatte ich in meiner Jugend kaum eine Ahnung über das Alltagsleben meiner Landsleute auf dem Dorf. Vielen meiner städtischen Altersgenossen wird es ähnlich ergangen sein. Auch in den wenigen Wochen des Ernteeinsatzes meiner Schulklasse während der Kriegsjahre 1942 und 43 auf einem Bauernhof der umliegenden Ortschaften habe ich keine tieferen Erfahrungen über das wirkliche Leben und Treiben der Landbewohner sammeln können. Vollends fremd dürfte den meisten von uns Stadtbürgern der Alltag auf einem der großen Rittergüter unseres Kreises gewesen sein, erlebt aus der Perspektive eines Mitglieds der adligen Besitzerfamilie. Überhaupt die Landadelsgeschlechter des Kreises Glogau was wissen wir schon über sie! In diese Wissenslücke will das folgende Interview stoßen, das ich mit einer herausragenden Vertreterin des Glogauer Landadels geführt habe, Frau Gabriele von Altrock geb. von Jagwitz vom Rittergut Biegnitz (nur wenige km nord-westlich von Glogau-Stadt gelegen). Frau von Altrock ist den meisten von uns, und darüber hinaus vielen Schlesiern, bestens bekannt von ihren achtungsgebietenden Aktivitäten in Sachen Schlesien, namentlich von ihren zahlreichen Hilfstransporten zu den in der Heimat verbliebenen Landsleuten. Hier meine Fragen an sie, die sich in einer Fortsetzungsfolge über mehrere Ausgaben des NGA hinziehen werden:

1) Welche Art Landwirtschaft stand im Vordergrund auf Ihrem Gut? Getreideanbau, Rüben, Kartoffeln, Viehwirtschaft ? Wie hoch war der Bestand an Pferden, Rindern, Schweinen, Schafen in Friedenszeiten ?

F.v.A.: Das Rittergut Biegnitz im Kr. Glogau, Niederschlesien, war ein ausgesprochen landwirtschaftlicher Betrieb. Es wurden Weizen, Hafer, Roggen, Gerste, Kartoffeln, Zucker- und Futterrüben angebaut im Kriege auch Lein; dazu als Viehfutter noch Klee, Luzerne und Mais (die Maiskolben waren in unserer Küche sehr begehrt). Die Anbau- fläche richtete sich nach der Bodenqualität. Diese war sehr unterschiedlich verteilt. Das Dorf lag im Urstromtal der Oder, zu einem Teil waren die Böden daher sehr sandig, zum anderen gab es auch gute, fruchtbare Böden. Diese unterschiedliche Bodenbeschaffenheit zog sich über die gesamte Feldmark hin. Die genaue Zahl der Acker- und Kutschgespanne sowie des übrigen Viehbestandes kann ich heute nicht mehr angeben. Sie dürfte sich aber im Rahmen eines mittleren schlesischen Rittergutes gehalten haben. Schafe hatten wir zu meiner Zeit nicht mehr.

2) Wie war die Bodenqualität in Biegnitz verglichen mit anderen Teilen des Kreises? Wie wirkte sich diese Qualität auf den Ertrag aus? Gab es um Biegnitz herum reichere Land wirte als beispielsweise im nördlichen oder auch im südlichen Gebiet des Kreises?

F.v.A.: Die Bodenqualität der Dörfer rechts und links der Oder war sehr unterschiedlich, entsprechend der geologischen Erdbodengeschichte (Alluvialböden, Sandböden, Lös usw.). Die Oder bildete auch landwirtschaftlich eine Wasserscheide. Sie bedingte unterschiedliche Niederschlagsmengen, die für den Ertrag eine wichtige Rolle spielten. Die Regenmenge in Biegnitz war oft geringer als die jenseits der Oder.

3) Was waren die wichtigsten Tätigkeiten im Tagesablauf Ihres Vaters? Arbeitete er dabei allein oder unter Assistenz eines Inspektors (oder dergleichen) ? Wie viele Stunden verbrachte er in Kontrollritten zu Pferde, wie viele mit der Planung am Schreibtisch?

F.v.A.: Mein Vater hatte einen äußerst disziplinierten Tagesablauf, der allerdings unerwarteten Wetterveränderungen angepasst wurde. Ohne exakte Arbeitseinteilung für den folgenden Tag bzw. die folgenden Tage ist die sinnvolle Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes nicht möglich. Am Vorabend wurde mit dem Inspektor der Arbeitsverlauf des kommenden Tages genau entworfen, d. h. auf welchem Schlag (so wurde das Feld bezeichnet) welche Arbeiten erforderlich waren und durch wen (Männer oder Frauen oder beide zusammen) sie durchzuführen waren; wie viel Zeit sie in Anspruch nehmen würden; welche Maschinen, Gespanne oder ähnliches Gerät dazu nötig waren; welche Arbeiten bei Wetterwechsel an anderer Stelle erfolgen sollten usw. Dem Inspektor stand meistens noch ein Assistent oder der Vogt zur Seite. Sie kümmerten sich um die Einzelheiten der Arbeits-Durchführung, d. h. sie gaben an, wie dies oder jenes zu tun sei. Der Inspektor war dabei mit dem Fahrrad unterwegs. Mein Vater, ebenfalls mit dem Fahrrad, später mit dem Auto unterwegs, besprach von Fall zu Fall mit dem Inspektor den Arbeitsfortgang. Kontrollritte gab es nicht. Die Tageseinteilung folgte dem jahreszeitlichen Rhythmus. Im Sommer begann sie für die landwirtschaftlichen Arbeiter um 6 Uhr früh. Dazu klapperte der Vogt auf eine fest verankerte, frei hängende Pflugschar im Mittelpunkt des Hofes um ¾ 6 Uhr zum erstenmal als Zeichen zum Fertigmachen , und um 6 Uhr zum zweitenmal zum Arbeitsbeginn. Die Pferde wurden allerdings schon um 4 Uhr früh gefüttert, ehe sie später zur Arbeit angeschirrt wurden. Von 11 - 13 Uhr war Mittagszeit, also klapperte es um ¼ vor 13 und um punkt 13 Uhr. Im Laufe des Nachmittags wurde eine halbe Stunde Vesper gehalten. Die Arbeit endete im Sommer um 19 Uhr.- Wie viele Arbeitsstunden mein Vater in der Kanzlei, wie viele auf dem Felde verbrachte, ist im einzelnen nicht festzulegen. Oft war er auch in Glogau auf dem Landratsamt, bei der Landwirtschaftlichen Handelsgenossenschaft, bei Firmen etc. Er war jedenfalls immer beschäftigt, die verschiedenen Tätigkeitsbereiche waren oft nicht streng voneinander zu zu trennen. Einen wichtigen Platz nahm auch die Lektüre der Tageszeitung, des Börsen blattes und anderer Zeitungen und Zeitschriften ein.

4) War seine Kommunikation mit den Knechten bzw. später mit den Fremdarbeitern eher distanziert, sachlich, dominierend, herzlich, oder wie sonst würden Sie diese Beziehung charakterisieren?

F.v.A.: Der Umgang mit den Arbeiterfamilien, mit dem Inspektor, dem Assistenten, dem Vogt, Schmied, Stellmacher, Maurer mit allen Menschen des Hofes beruhte auf der christlichen Einstellung unserer Familie, wonach jedem Menschen seine Würde vor Gott gleichermaßen zukommt, also auch vor dem Mitmenschen. Das hat sich für uns bis heute nicht geändert. Die Bezeichnung Knecht für Arbeiter in der Landwirtschaft war schon lange nicht mehr gebräuchlich. Die Beziehung zu den Fremdarbeitern/Kriegsgefangenen kann ich durch folgendes Beispiel charakterisieren: Im Sommer 2006 war ich u. a. in Glogau, um auf Wunsch des Fernsehens mit einem hilfsbereiten deutschsprachigen Polen in Biegnitz nach Spuren von Haus, Hof und Park zu suchen. Nichts, gar nichts mehr deutet heute darauf hin, dass sich dort einmal das Bauerndorf Biegnitz mit gut funktionierender Infrastruktur befand, dazu mit einem großen Guts-Areal, das Stallungen, Scheunen, Häuser für die Arbeiter, Remisen und Inspektorhaus umfasste. Weil der Dolmetscher es nicht fassen konnte, dass der ausgedehnte Komplex nicht mehr auszumachen sei, hatte er nach einer Person geforscht, die das alte Biegnitz auch noch kannte. Er fand sie in Gestalt einer ehemaligen Kriegsgefangenen. Diese heute über 80-jährige Frau war im Mädchenalter als russische Kriegsgefangene nach Biegnitz zu einem Bauern als Erntehelferin gelangt. Der Bauer wohnte unweit des Schlosstors, so dass sie von unserem Leben einen ungefähren Eindruck erhalten haben mochte. Jedenfalls konnte sie z.B. noch über die Beerdigung meines Bruders im Sommer 1944 genau berichten. Frau K. glaubte sich ihrer Biegnitzer Ortskenntnis sicher und half eifrig bei der Suche nach Markierungen jedweder Art. Aber nichts ließ sich finden, was etwa auf den Straßengraben oder eine Grundmauer hätte hinweisen können. (Das Dorf war wegen des Kupferabbaus durch die Polen dem Erdboden gleichgemacht). Die Enttäuschung war groß, vor allem bei dem Fernsehjournalisten, der die vergebliche Recherche kaum fassen konnte. Um doch noch mit einem Abschluss von der Exkursion zurückzukehren, fragte er die ehemalige russische Kriegsgefangene (die einen Polen geheiratet hat und heute in Glogau lebt) ganz spontan: Und wie war denn der Vater von der Frau von Altrock? Ohne sich zu besinnen, antwortete sie auf deutsch: ...ein guter Mann, ein serr gutter Mann. Warum ? Der hatt uns immer gegrießt. Unser Dolmetscher fasste die Antwort zusammen: Die Ernte-Helferinnen wurden zusammen zu den Einsätzen auf die Felder geführt; mein Vater fuhr per Rad an ihnen vorbei und winkte ihnen aufmunternd zu. Das war damals absolut ungewöhnlich, um nicht zu sagen unvorsichtig (Mit Fremdarbeitern durfte keine persönliche Geste gewechselt werden). So viel wusste auch Frau K. Sie verstand diese Geste und vergaß sie ihr Leben lang nicht. - - Monate später, kurz vor Weihnachten, erreichte mich ein Päckchen, mit ungelenker Handschrift adressiert. Ich traute meinen Augen nicht, als ich beim Auspacken einen Zettel fand: Gutte Weihnachten stand darauf, genauso mühsam geschrieben wie die Adresse, und ich hielt eine handgestrickte kleine Weihnachtsdecke in Händen...(die Kaffeeflecke darauf zeugten von Anstrengung bei der ungewohnten Arbeit). Noch ein Beispiel zur Beziehung meines Vaters zu seinen Angestellten: Als er eines Tages hörte, dass unser Schmied demnächst Silberhochzeit feiern würde, rief er einen uns be- kannten evangelischen Pastor in Glogau an und bat ihn, eine auf das Silberpaar zugeschnittene Predigt zu halten. Das wurde freundlich zugesagt. War es aber auch dem Schmied und seiner Frau, der Meister Schmieden , wie sie allgemein genannt wurde, recht? Jawohl , Herr Major , war die kurze und klare Antwort. Und natürlich war es dann für das Paar ein erhebendes Gefühl, im Kutschwagen der Herrschaft, mit dem Kutscher vorneweg, zum Gottesdienst in die Stadt gefahren zu werden. Darüber gab es jedoch keine großen Worte. Es war eine Gepflogenheit zur Freude aller Beteiligten.

5) Welche Rolle hatte Ihre Mutter auf dem Gutshof und im Hause inne? Wie viele Mägde hatte der Hof in Friedenszeiten? Wie würden Sie ihr Verhältnis zu den Bediensteten bezeichnen? Wie war Ihr eigener persönlicher Kontakt zu ihnen?

F.v.A.: Der Aufgabenbereich meiner Mutter, der Gutsfrau, ergab sich aus den Gegebenheiten. Die Bezeichnung Magd/Mägde gehörte damals bereits der Vergangenheit an. Stattdessen war die Hauptverantwortliche die Stütze genannt, dazu gab es die sogenannten Mädchen . Das Verhältnis zu den Hilfskräften in Haus und Garten wurde genauso von Respekt und Menschlichkeit bestimmt wie das zu den Arbeitern. Unsere Anteilnahme am Familienleben der Hilfskräfte war selbstverständlich und wo immer möglich von Rat und Tat begleitet. Im Hause trug meine Mutter die Verantwortung für das Funktionieren des Tagesablaufs, d. h. die Mahlzeiten mussten pünktlich serviert werden, entsprechend waren sie in der Küche vorzubereiten. Der Inspektor wurde aus der Schlossküche versorgt; eine Frau, genannt die Mutter S., holte die zugedeckten Töpfe auf einem Tablett ab und brachte sie samt Geschirr abgegessen zurück. Die Schlafzimmer, Wohnräume etc. waren aufzuräumen und alles was dazu gehört. Die Wäsche musste regelmäßig in Ordnung gehalten werden, die Gardinen von Fall zu Fall. Die Waschtage mit zwei Waschfrauen waren vorzubereiten (Einteilen nach Leibwäsche, Tischwäsche, Bettwäsche etc.). Für die getrocknete Wäsche musste ein Mann zur Bedienung der Rolle bestellt werden, denn große Wäschestücke, Handtücher etc. wurden zunächst gerollt (gemangelt). In der Rolle , einer riesigen Maschine , befanden sich Holzrollen, um die die Wäsche sorgfältig gewickelt wurde, damit sie glatt gepresst würde. Der Mechanismus wurde dann durch Drehen eines Rades in Gang gesetzt, was Manneskräfte erforderte. Weiter kümmerte sich die Gutsfrau um das Geflügel mit allem, was dazu gehört (Futter, brütende Hennen, Küken, Eier; was ist zu schlachten, was ist zu rupfen usw.). Dafür war die Köchin in Absprache mit meiner Mutter zuständig. Unsere Mutter sorgte von Fall zu Fall auch dafür, dass mal Tauben auf dem Speisezettel standen. Die Verwaltung des Obst- und Gemüsegartens oblag der Gutsfrau ebenfalls. Zwei Gartenfrauen standen ihr dabei zur Seite. Wiederum in Absprache mit meiner Mutter wurden die erforderlichen Arbeiten eingeteilt, die sich naturgemäß nach den Jahreszeiten richteten. Gemüse wurde hauptsächlich für den Eigenbedarf angebaut. Die Spargelbeete wurden im im Krieg nicht mehr gepflegt. Erdbeeren wurden nach Glogau an Feinkostläden geliefert, Rhabarber wurde in großen Mengen in Biegnitz verkauft. Tomaten gediehen besonders gut, was aber auch von den Witterungsverhältnissen abhängig war. In geringer Menge wurden Frühkartoffeln für den eigenen Haushalt angebaut. Ebenso wurden Schattenmorellen, Äpfel, Pflaumen, Pfirsiche, Quitten im eigenen Haushalt verbraucht und je nach Ausfall der Ernte eingeweckt, eingekocht oder zu Marmelade verarbeitet. Weintrauben fielen mengenmäßig nicht ins Gewicht. Winteräpfel wurden auf Stroh geschüttet und regelmäßig als Frischobst verbraucht; sie reichten bis ins Frühjahr. Zu erwähnen ist noch das Schweineschlachten. Dazu kam ein professioneller Fleischer. Die Verarbeitung des Fleisches (auch zu Blutwurst, Wurst und Schinken) oblag der Köchin, ein Teil kam zum Räuchern in die eigene Räucherkammer. Die Frage nach dem persönlichen Kontakt zum Personal ist immer wieder damit zu beantworten, dass grundsätzlich galt (was bis heute gilt), dass jedem Menschen zunächst einmal Respekt entgegen gebracht wurde. Menschliche Nähe kann sich später dazu entwickeln. Sie hängt von vielen Faktoren ab. Aber auf einen Punkt ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen. Der Gutsbetrieb (alle die dazu gehören) bildet eine Gemeinschaft. Das mag auch damit zusammenhängen, dass alle gleichermaßen vom Wetter abhängig sind, egal, wie viel Land ein jeder bebaut mangelnder Regen, brütende Hitze, vorzeitiger Frost gefährden den Ertrag. Denn auch die Landarbeiter erhielten vom Gutsbesitzer ein Stück Gartenland, das in eigener Regie zu bearbeiten war. Natürlich geschah in Biegnitz, was überall geschieht: Reibungen, Rivalitäten oder Neidgefühle blieben nicht aus. Aber das Wir-Gefühl bildete damals trotzdem noch eine zusammenfassende Klammer.

6) Wie verlief Ihr Tag normalerweise, etwa im Vergleich zu den Stadtkindern? Pflegten Sie Freundschaften mit gleichaltrigen Adelsfräulein oder ebenso mit Mädchen bürgerlicher Herkunft auf dem Lande ? Gab es da einen gesellschaftlichen Unterschied, der mehr ins Gewicht fiel als sonst üblich?

F.v.A.: Der Tagesverlauf von mir (der Ältesten) und meinen Geschwistern verlief naturgemäß anders als von Stadtkindern. Wir wuchsen im Einklang mit der Natur, mit den Jahreszeiten auf. Als Spielgefährten hatten wir die Hofekinder , mit denen wir Schlittschuh liefen, baden gingen, auf Bäume kletterten, schippelten (d.h. mit Murmeln spielten) usw. Mein Bruder lud sie je nach Platz oft in seinen Ponywagen auf und fuhr mit der ganzen Bagage durch die Felder dabei war ich als Mädchen geduldet. Meinen ersten Schulunterricht empfing ich auf der übrigens sehr guten Volksschule unseres Dorfes. Sie hatte, wie die meisten Dorfschulen, nur zwei Klassen, eine für die jüngeren, die andere für die älteren Jahrgänge. Freundschaften aber ergaben sich erst mit Klassenkameradinnen vom Oberlyzeum in Glogau, das ich vom zehnten Lebensjahr an besuchte, oder mit gleichaltrigen Mädchen und Jungen aus der Verwandtschaft. Durch gleichgerichtete Interessen und ethisch ähnliche Anschauungen kristallisierten sich problemlos ganz von selbst Kontakte heraus, die lebenslang bestanden oder noch bestehen.

7) Wie verlief das Leben Ihrer Familie an Sonn- und Feiertagen? Fuhr man hoch zur Kutsch zum Gottesdienst in die evangelische Kirche? Wo war der Sitz Ihrer Familie im Raum des Gotteshauses? Mit welchen anderen Honoratioren von Biegnitz und Umgebung pflegten Sie geselligen Verkehr?

F.v.A.: Die Sonn- und Feiertage waren gekennzeichnet durch Fahrten (im Kutschwagen oder später im Auto) zur evangelischen Friedenskirche nach Glogau. Eigene Sitzplätze hatten wir dort nicht. Im Dorf Biegnitz gab es weder eine ev. noch eine kath. Kirche. Jedoch fand ab und zu ein evangelischer Gottesdienst in der Schule des Ortes statt. Als das der Partei nicht mehr genehm war, auch bei uns auf dem Schloss. Dazu kam der Pastor entweder mit der Bahn, oder unser Vater ließ ihn im Kutschwagen abholen. Die Teilnahme an diesen Gottesdiensten, auch mit den Mädchen , war selbstverständlich freiwillig, also ohne Zwang. Wenn Fahrten in die Stadt nicht möglich waren, hielt unser Vater eine Andacht, die von den Herrenhuter Losungen begleitet wurden. Nur als Anmerkung: Niemand hat sich jemals gegen die Teilnahme an den Gottesdiensten oder Andachten gesträubt oder hätte sie schwänzen wollen. Damit wir auch bei der Sache waren, mussten wir dann zu Hause den Predigttext und möglichst auch die Bibelstelle rekapitulieren. Das war prägend für das ganze Leben und verlieh uns nach Flucht und Vertreibung und in schwersten Nachkriegsjahren Kraft und Zuversicht! Im übrigen war namentlich auch der Sonntag bestimmt durch Kontakte mit verschiedenen Gutsbesitzern im Kreise Glogau.

8) Wie hoch würden Sie den Einfluss des christlichen Glaubens bzw. der evangelischen Kirchenfrömmigkeit auf Ihre Jugenderziehung veranschlagen? Dazu in Zeiten einer atheistischen Nazi-Ideologie ?

F.v.A.: Aus dem Vorhergesagten dürfte bereits klar geworden sein, dass wir eine bewusst evangelische Erziehung genossen haben, eine Erziehung, die nicht mit Kirchenfrömmigkeit zu bezeichnen ist. Unser Aufwachsen wurde begleitet von der elterlichen Bemühung einmal um Wissensvermittlung, d. h. um gute Schulbildung und Ausbildung, und zum anderen darum, uns die Bedeutung von Bildung nahe zubringen. Ausbildung ist eine notwendige Voraussetzung für die Ausübung eines Berufes, den man begrenzen oder wechseln oder aus dem man aussteigen kann. Aber Bildung betrifft keinen Teilbereich dieser Art, sondern den ganzen Menschen, seine Haltung, seine Gesinnung, sein ethisches Verantwortungsbewusst- sein für sich und für andere vor Gott. Das bedingt Rücksicht, Einfühlungsvermögen, Taktgefühl, Innehalten zur kritischen Selbstreflektion und die lebenslange Bereitschaft dazu. Bildung vollzieht sich als lebenslanger Lernprozess zu einer aufrechten Persönlichkeit. Dieses Denken erlebten wir als selbstverständlich im gelebten Alltag, es bedurfte keiner pädagogischen Unterweisung . Es prägte uns vom ersten Lebenstage an. Wir wuchsen damit wie selbstverständlich auf. Dazu gehörte, dass wir in unserem kindlichen oder jugendlichen Umfeld mit diversen altersgerechten Aufgaben betraut wurden, zu denen andere viel seltener als wir herangezogen wurden, und für die wir im Rahmen unseres Alters Rechenschaft abgeben mussten. Diese Praxis erzog uns zum eigenverantwortlichen Handeln und zu Entschlussfähigkeit, worauf großer Wert gelegt wurde. Dies bewirkte später, dass uns als Erwachsenen ungewollt Führungsaufgaben übertragen oder zugetraut wurden. So ergab es sich z. B. wie von selbst , das ich mich um die evangelische Studentengemeinde in Breslau kümmern sollte und dass mir nach der Vertreibung die Studentengemeinde in Marburg übertragen wurde ohne dass ich besondere Verbindungen in Anspruch hätte nehmen können, dazu ohne jeglichen finanziellen Rückhalt, ohne regionale Ortskenntnisse. Ich hatte mich nämlich ohne Bedenken und ohne jeglichen Auftrag, nur voller optimistischen Vertrauens, an den amerikanischen Stadtkommandanten persönlich gewandt und um Unterstützung mit Geld und Lebensmitteln für Advents- und Weihnachtsfeiern gebeten. Der Erfolg rief Erstaunen hervor, weil ich mir das zugetraut hatte, wo es für mich doch nichts weiter als selbstverständlich war. (Aus heutiger Sicht erscheint mir die liebenswürdige Hilfe des hohen Offiziers auch erstaunlich: Denn ich trat äußerlich höchst unattraktiv auf in meinem braunen Mantel Marke Eigenbau , geschneidert aus der DRK-Wolldecke, die aus meiner 1945 beendeten Lazarett-Zeit stammte, dazu in dicken, scheußlichen Strümpfen und total verbrauchten schwarzen Schnürschuhen, die ebenfalls zur DRK-Ausrüstung gehört hatten). Und bei der nicht angestrebten Übernahme/Übertragung von ungewöhnlichen Aufgaben und Ämtern ist es dann durch Jahrzehnte hindurch bis zum heutigen Tag geblieben. U. a. wurde ich, ohne mich beworben zu haben, zur Mitarbeit an der Literaturzeitschrift Evangelischer Buchberater aufgefordert, die ich bis heute wahrnehmen darf. Zurzeit bin ich in der 2. Legislaturperiode Seniorenbeirätin in Frankfurt, worum ich mich ebenfalls niemals beworben hatte. Aber ich erklärte mich dazu bereit, als man mir glaubhaft versicherte, die Anfrage entspräche der überwiegenden Mehrheit der Befragten. Seitdem versuche ich mit viel Freude, den vorgegebenen Aufgaben gerecht zu werden. Wieder gibt Einsatz für andere für andere Menschen besondere Sinnerfüllung. So viel zur fundamentalen Bedeutung der Erziehung im Elternhaus für das ganze Leben. Es bleibt hinzuzufügen, welche erzieherische Wirkung auch von meinem Geschwisterkreis ausgegangen war - wir waren vier Kinder. Fortsetzung folgt ...

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