Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 10, Oktober 2015

Das unsichtbare Theaterdirektor

von Ottomar in der Au

1. Fortsetzung aus NGA09/15

Die Tür von Mutter Seebalds Küche lag genau gegenüber der hinteren kleinen Bühneneingangstür des Theaters, das heißt, man konnte sie unschwer mit ausgestreckten Armen gleichzeitig berühren und war also theoretisch imstande, mit zwei normalen Schritten von der Schwelle der einen Tür auf die Schwelle der anderen zu gelangen. Sofern man Glück hatte!

Nun, das muss doch ganz einfach gewesen sein — wird der Leser jetzt sagen.
Aber nein - sage ich —, das war es eben nicht!Stadttheater

>Erinnern Sie sich an das Stadttheater der vorigen Ausgabe? Wenige Jahre danach sah die Fassade so aus. Aber sie wurde noch einmal verändert, dann aber schöner gestaltet.<

Man darf nämlich nicht vergessen, dass der Steinboden dieses allerdings verhältnismäßig schmalen Zwischenraumes schlicht gesprochen im Laufe der Jahrhunderte derart ausgehöhlt war, dass das ganze Gässchen in seiner gesamten Länge die Form einer halbierten Kanalisationsröhre angenommen hatte. Stellt man sich nun noch vor, dass diese Röhre die längste Zeit des Winters vereist war, dann wird man begreifen, dass es gewisser Fähigkeiten bedurfte, um dieses in der Tat an sich lächerlich kurze Stückchen Raum zwischen den beiden berühmten Türen zu überwinden.

Das hatte auch unser Kapellmeister C. erfahren, als wir ihn zwischen zwei Vorstellungen — die wir im Theater verbleiben wollten, um uns nicht doppelt zu schminken - ausschickten, mal eben schnell bei Mutter Seebald ein paar Flaschen Bier zu holen.

Hinüber kam er. Aber zurück gelang ihm mit etlichen Flaschen Bier unter beiden Armen der kühne Sprung nicht mehr. Vom Fenster aus genossen wir die urkomische Szene, wie der Kapellmeister buchstäblich im Biere schwamm. Ich glaube, Gryphius hätte das nicht besser dramatisieren können.

Mutter Seebald stand ihrerseits am Küchenfenster und hielt sich ihren mächtigen wippenden Bauch vor Lachen. Aber ihr Herz war noch größer als ihr Bauch. Sie lieferte gratis zum zweitenmal die gleiche Portion Flaschen, wobei die Übergabe folgendermaßen bewerkstelligt wurde: Der Kapellmeister blieb - nachdem er sich mühsam aufgerichtet hatte, was nach diversen misslungenen Versuchen wiederum ein Schauspiel für sich war — als Verbindungsmann in der Mitte stehen, und einzeln wurden so die Flaschen vorsichtig von einer Tür zur anderen herübergereicht.

Als die letzte Flasche glücklich in unserem Besitz war und der Kapellmeister schließlich nachkommen wollte, rutschte er erneut aus und lag — obwohl sich ihm helfende Arme aus beiden Türen entgegengestreckt hatten — abermals der Länge lang im Bierkanal.
Zwanzig Minuten später stand er jedoch lächelnd im Frack am Dirigentenpult, als ob nichts vorgefallen wäre. Und nach Schluss der Vorstellung hing, von Mutter Seebald am heißen Küchenofen getrocknet, gereinigt und gebügelt, sein Anzug ausgehfertig wieder in seiner Garderobe.

Das war Mutter Seebald. Gott habe sie selig!

Sie hatte auch stets ein kleines passendes Scherzwort auf den Lippen. Wenn wir spät in der Nacht endlich doch nach Hause gehen mussten, verabschiedete sie uns mit der immer gleichbleibenden freundlichen Ermahnung: Vergessen Sie bitte nicht, Ihre Antenne zu erden!

In Wirklichkeit duzte sie uns natürlich. Aber dies waren dazumal die stereotypen Schlussworte der Radioansager, die noch stimmungsvoll von ein paar sinnigen Takten jenes alten sanften Liedes untermalt wurden: Und wieder geht ein schöner Tag zu Ende . . .
Und das sagten wir bei Mutter Sebald auch immer. —Zuschauerraum neu

>So sah schließlich der modernisierte Zuschauerraum aus.<

Der Eingang zum Kassenraum war also an einer anderen Seite. Der Eingang zum Foyer wieder an einer anderen Seite. Der Eingang zum Parkett abermals an einer anderen Seite. Und die Eingänge zu den Rängen teilweise an noch ganz anderen Seiten; während man sie ab und zu auch über mehrere Freitreppen erreichen konnte, die außerhalb an den Mauern angebracht waren. Man brauchte also in diesem Falle durch keinen der vielen übrigen verwirrenden Eingänge zu gehen. Andererseits konnte man aber ebensogut die in gleicher Anzahl noch einmal vorhandenen Ausgänge als Eingänge benutzen, jedoch nicht immer die Eingänge als Ausgänge.

Wohin mochten nun aber jene zwei zuerst erwähnten verrosteten und so seltsam eng in einem fast spitzen Winkel zueinander stehenden Türen führen, die man als Uneingeweihter für den Haupteingang zum Theater gehalten hatte? Sie lagen genau unter Gryphiusbüste und akkurat in der Mitte der breitesten Fassade des Hauses, um hier geradezu als Blickfang zu wirken, wenn man auf der Hauptverkehrsstraße stand - die hier noch obendrein durch einen verhältnismäßig respektablen Theatervorplatz verbreitert war — und so das Gebäude sinnend betrachtete.

Was war hinter diesen Türen? Nun, nichts anderes als eine simple Rumpelkammer der Städtischen Straßen-Reinigungs-Gesellschaft, in der Besen, Schaufeln, Abfalleimer, kleine Müllkarren und ein Bottich mit Streusand aufbewahrt wurden.

Außerdem diente dieser vielseitig bemerkenswerte Raum als nächtliche Zufluchtsstätte jenen seelisch verunglückten Bürgern der Stadt, die nach einem allzu feucht und fröhlich ausgedehnten Geselligkeitsabend eine verständliche Scheu vor dem Nachhauseweg hatten.

So war der Dichter Gryphius auch zum Patron aller Weinberauschten geworden, wenn sie sich vertrauensvoll unter seinen Schutz begaben. Wie oft mag er selber alkoholselig im Vollmondschimmer durch die Straßen Glogaus geschaukelt sein wie weiland sein nachmaliger Kollege in dieser Sparte: der Schweizer Staatsschreiber und Dichter Gottfried Keller in Zürich. —

Im Weichbild der Stadt lag ein großer Teich. Er war schon als ein kleiner See anzusprechen, der die längste Zeit der Wintersaison zugefroren blieb und einen herrlichen Eislaufplatz für jung und alt abgab. Wenn er nicht zugefroren war, konnte man auf ihm gondeln mit dem meistens angenehmen Resultat, dass sich beispielsweise während einer Spielzeit am Glogauer Stadetheater unter den Mitgliedern verhältnismäßig rasch diejenigen Paare zusammenfanden, die ihre Liebhaberrollen auch im Privatleben miteinander weiterzuspielen bereit waren.

Sodann war Glogau liebevoll — wie von innig geschlossenen Mutterarmen - von einem schönen baumbestandenen Stadtwall umgeben, der noch aus dem frühen Mittelalter stammte. Ich erwähne diesen Wall deshalb, weil ich später noch einmal besonders auf ihn zurückkommen muss.Theatervorhang

>Der alte Bühnenvorhang: Apoll mit den neun Musen<

Die Stadt besaß ferner eine uralte Kirche mit einem wuchtigen, ziemlich hohen Turm. In diesem Turm befanden sich alte romantische Zellen, die mit altertümlichen Gerätschaften und zahllosen wertvollen, von mittelalterlichen Mönchen handgeschriebenen Büchern angefüllt waren.

Ich war vielleicht nach Jahrzehnten der erste Mensch, der wieder einmal diese verstaubten interessanten Räume betrat; Kemenaten, in denen teilweise noch vollständiges Mobiliar vorhanden war und in denen jetzt Mauersegler, Dohlen und sonstiges Getier ein ungestörtes Herrendasein führten. Der Küster selbst war zeit seines Lebens noch niemals dort hinaufgestiegen. Er sollte sich mir in einem für mich besonders wichtigen Punkt bald noch als sehr hilfreich erweisen.

Ich lernte ihn in meiner kleinen Kneipe unten an der Oderbrücke kennen, wo ich oft nach der Vorstellung Abendbrot aß, und zwar meistens eine Glogauer Riesenknoblauchwurst mit einem Berg duftender Bratkartoffeln und einer „Kaffeebohne" dazu.

Eine „Kaffeebohne" war keine gewöhnliche Kaffeebohne, sondern so nannte man ein reguläres Wasserglas voll klaren schlesischen Fuhrmannskorns, bedeckt mit einer dünnen Zitronenscheibe, auf der nunmehr erst aus unerfindlichen Gründen eine Kaffeebohne schwamm. Und alles zusammen für 55 Pfennig! Wohlgemerkt: das komplette Essen — zu dem übrigens noch ein stets frisches Brötchen gehörte — also mit diesem unwahrscheinlichen Berg Bratkartoffeln und jener sagenhaften Glogauer Wurst, die zu beiden Enden noch einmal um die gleiche Länge über den Tellerrand hinausragte, die der an sich schon nicht etwa kleine Teller im Durchmesser hatte!
Unser Kapellmeister — der bewusste kühne Bierschwimmer — der sich beim Dirigieren immer dermaßen abzuarbeiten pflegte, dass nach jeder Vorstellung sein ehemals steifer Eckenkragen wie ein nasser Halsumschlag aussah, also dieser Kapellmeister aß manchmal vier bis fünf solcher Portionen hintereinander, ohne mit der Wimper zu zucken, einschließlich „Kaffeebohne" im entsprechenden Plural! Aber das nur nebenbei.

In jener Kneipe nun, in der jeder Besucher schon unter normalen Verhältnissen sofort von einer warmen urgemütlichen Atmosphäre umfangen wurde, feierte man gerade ein schlesisches Schlachtfest mit Freibier und obligatem Wellfleischessen. Das Bier war also sowieso frei, gleichgültig, in welcher Menge man es zu genießen wünschte, und eine große Portion Wellfleisch kostete aus Reklamegründen nur 35 Pfennig! Das war eine ganz tolle einmalige Angelegenheit.

Noch am nächsten Tag war mir derart schlecht und jämmerlich zumute, dass ich keinerlei Nahrung zu mir nehmen konnte und vor allen Dingen auf der Vormittagsprobe ganz ungewohnterweise eine völlige Niete abgab. Es war das erste- und letztemal, dass mir solch ein übles Missgeschick passierte.

Immer wenn mein Klingelzeichen ertönte und ich auf der Bühne drankommen sollte, erschraken meine Gedärme in einer Weise, dass ich sofort einen gewissen Ort aufsuchen musste.

Dieses „Spiel" hinter der Bühne wiederholte sich mehrmals und ging eine Zeitlang so hin, bis der Kapellmeister kurzerhand die Probe abbrach. Aber nicht nur meinetwegen!

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