Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 1, Januar 2016

Das unsichtbare Theaterdirektor

von Ottomar in der Au

3. Fortsetzung aus NGA11/15

Ich war ihnen gleichfalls ein angenehmer Mieter. Lediglich einen Übelstand gab es zu verzeichnen: Ich durfte in meinem Zimmer nicht laut lernen! Keine Sprechübungen machen und schon gar nicht so wild aufschreien, wie ich es einmal ahnungslos getan hatte! Denn das war meiner Wirtin geradezu unheimlich, und sie bekam es mit der Angst zu tun.
Nun musste ich doch aber Tonübungen machen und mein Organ regelmäßig mit voller Kraft ausprobieren, um es zu stärken und sein Volumen zu vergrößern, damit ich es mühelos auch für die dramatischsten Ausbrüche gebrauchen könnte.
Wo war der Raum, in welchem man mich ungestört nach Herzenslust schreien ließ? Die Bühne war nachmittags schon von anderen wilden Kollegen besetzt. Da kam mir eine Erleuchtung! Und das ging folgendermaßen.
Der Küster! Das war mein Mann! In meiner kleinen saugemütlichen qualm- und frohsinngeschwängerten Kneipe unten an der Oder saß er mir gegenüber, um dort dem gleichen Zweck bezüglich Wellfleisch und Freibier zu huldigen wie ich.
Als ich ihm von seiner schönen alten Kirche vorschwärmte, von der ich zu Beginn der Spielzeit schon ein paar Aufnahmen gemacht hatte, und ihm schilderte, wie herrlich es sein müsste, einmal auf dem höchsten Turm dort oben länger zu verweilen und aus den winzigen Fenstern auf die Stadt hinabzublicken, überreichte er mir bereitwilligst, mit wellfleischseliger Umständlichkeit, einen riesigen verrosteten Schlüssel und erklärte geheimnisvoll: Wenn Sie das interessiert finden, und wenn Sie da mal raufwollen, hier ist der Schlüssel zum Turm. Behalten Sie ihn, so lange Sie wollen. Ich brauche ihn nicht. Ich gehe da doch nicht rauf. In meinen jüngeren Jahren hatte ich was anderes zu tun, und heute sind meine Beine zu alt geworden für derartige halsbrecherische Kletterpartien. Abgesehen davon, soll es ja auch nicht ganz geheuer sein da oben. Sollen ja uralte Schriften von den Mönchen da oben noch vorhanden sein und alles Mögliche. Meinetwegen können Sie sich auch was davon mit nach Hause nehmen zum Studieren oder so. Aber vergessen Sie nie, die Stufen zu zählen, und sagen Sie mir dann mal Bescheid, das hat nämlich noch nie einer rausgekriegt, wieviel Stufen das eigentlich sind. Beim Runterklettern kommt nämlich immer eine andere Zahl raus als wie beim Raufklettern. Vielleicht können Sie mal ein Buch darüber schreiben. Und wenn Sie nach Hause gehen, müssen Sie die unterste Tür genau so abschließen wie die oberste Tür, wenn Sie oben sind; dann stört Sie keiner, dann können Sie da machen, was Sie wollen. Sie dürfen bloß kein offenes Licht machen da oben; das ist das einzige, was Sie mir versprechen müssen!
Ich versprach es; fragte aber doch noch so nebenbei — um quasi meinem vorsichtigen Gewissen auf halbem Wege entgegenzukommen — ob ich denn wenigstens rauchen dürfe im Turm.

Ja, rauchen dürfen Sie — sagte der Alte — rauchen ist ja kein offenes Feuer! Das glimmt ja bloß. Und vielleicht wissen Sie es bei der Gelegenheit noch nicht: Glimmendes Feuer ist schwer und geht nach unten, aber flackerndes Feuer ist leicht und geht nach oben. Wenn Sie eine Zigarre rauchen, mal angenommen, und die ist schief angebrannt, dann können Sie das am schnellsten wieder ausgleichen, wenn Sie einfach bloß die Zigarre in der Horizontalen so halten, dass der Teil, der noch nicht so gut angebrannt ist, nach unten zeigt, dann wird der Glimmrand wieder gerade, weil ja das Glimmen nach unten geht — klar? — und auf diese Weise den Teil rasch wegnimmt, der eben noch nicht so gut angebrannt war. Können Sie mir geistig folgen?
Ich nickte tiefsinnig, und der Alte fuhr ebenso tiefsinnig fort: Ja, wie gesagt, rauchen dürfen Sie. Ich rauche ja auch; das heißt, bloß im Augenblick habe ich nichts bei mir!
Diesem Übelstand können wir abhelfen — erwiderte ich und gab ihm gleich drei von meinen frischen Brasilzigarren, die ich dazumal in rauhen Mengen zu qualmen pflegte, weil ich sie jeden Tag von meiner treuen Wirtin geschenkt bekam. Es waren Zigarren, die ihr beim Drehen nicht recht geraten waren. Das kam regelmäßig vor, auch bei der geübtesten Dreherin. Ja, Frau G . . . verstand es, ihren Mann und mich reichlich mit Zigarren zu versorgen. Sie waren allerdings noch sehr feucht und weich, weil sie ja naturgemäß nie zum Ablagern kamen; aber das machte nichts. Von geschenkten Zigarren geht ein Fuder auf einen Karren.
Das dachte auch der alte Küster. Begeistert nahm er die krummen, schwarzen Bolzen an und meinte: da können wir ja auch gleich mal das mit dem Glimmen ausprobieren!
Er hatte recht, es stimmte, und ich hatte wieder mal was gelernt. Und nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich ein vorsichtiger kluger Mann sei, steckte ich den schweren Turmschlüssel andächtig in meine rechte Hosentasche in dem plötzlich auftauchenden schlachtfestdurchtränkten Bewusstsein, mit diesem mittelalterlich romantischen Gerät gleichzeitig eine passende Abwehrwaffe auf meinen nächtlichen Nachhausewegen vom Theater oder Stammlokal zu besitzen.
Ich habe ihn aber Gott sei Dank nie zu diesem Zweck gebrauchen müssen. Ich behielt ihn während meines ganzen Aufenthalts in Glogau bei mir, und kam auch nach Schluss der Spielzeit nicht mehr dazu, ihn feierlich zurückzugeben, denn der Küster war inzwischen plötzlich gestorben. Und so habe ich den Schlüssel heute noch. Gewissermaßen als Talisman. —
Oben im Turm hatte ich nun mein zweites Domizil aufgeschlagen. Stundenlang verweilte ich dort. Lernte unbehelligt meine Rollen. Machte ohne Hemmungen meine lautesten Tonübungen, deren ich fähig war, ohne dass mich eine Menschenseele gestört hätte. Schrie mit dem Sturm um die Wette, wenn er eifersüchtig und zornig um die Turmspitze fegte. Las in den alten schweinsledernen Schwarten. Schaute sinnend über das weit ins Land sich schlängelnde silberne Band der Oder hinweg in die untergehende Sonne hinein, die schließlich den stärksten Sturm besiegt hatte. Und schrieb romantische Gedichte, wie es vor Hunderten von Jahren auch die mittelalterlichen Mönche hier einst getan haben mochten.
Erst später, schon fast gegen Ende der Spielzeit, war es mir eingefallen, dass
sich hier oben ein gewisser merkwürdiger Kollege, der ausgezeichnete Charakterspieler St . . . gut hätte häuslich einrichten können, ohne dass es der übrigen Menschheit aufgefallen wäre, vor der St. . . . ruhelos auf einer unglücklichen Flucht war.
Dieser Kollege — so vorbildlich er auch auf der Bühne seine Rollen spielte — war leider im Privatleben so charakterschwach, dass er es nicht verstand, von seiner verhältnismäßig anständigen Gage seine Miete zu bezahlen. Alles Geld tat ihm Leid, das er nicht in Alkohol umsetzen konnte. Selbst Mutter Seebald war bekümmert, ihm nicht länger helfen zu können. Und das wollte etwas heißen.
Zuletzt hatte er überhaupt kein möbliertes Zimmer mehr, sondern verbrachte seine Nächte für den nur noch kurzen Rest seines Lebens ausschließlich im Warteraum des Bahnhofs. Wir wunderten uns oft, dass er dennoch immer ein tadelloser Lerner war und seine Rollen bezaubernd durchführen konnte.
Einmal gab er mir auf der Straße fünf Mark und bat mich, ihm in dem damals bekannten Herrengeschäft Do. . . . ein paar Gamaschen zu kaufen. Ich sollte aber beileibe nicht sagen, dass sie für ihn seien: Ich friere mich ja tot, Mensch, ohne Gamaschen und ohne Strümpfe, bei der Kälte!
Und er könne sich nun auch dort in jenem Geschäft — wie schon fast in jedem anderen Laden Glogaus — wegen seiner Schulden nicht mehr sehen lassen; zumal er nicht mehr die Absicht hegen konnte und deshalb auch nicht zu hegen gedachte, sie jemals zu begleichen.
Ich holte ihm die Gamaschen heraus — ich hatte von mir aus auch noch ein paar dicke Strümpfe dazugelegt — und sagte: Nee, Mensch, du frierst dich nicht tot, aber du säufst dich noch mal tot!
Er lachte bitter auf: Kannst recht haben, Mensch! Aber vielleicht habe ich Grund dazu! Ja ja, kannst schon recht haben!
Und ich hatte leider recht.

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