Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 8, August 2017

Der Bergmühlbach

von Hans-Jürgen Lau-Henze

 

In den ersten Schuljahren lernten wir in der Heimatkunde, dass die Oder die Lebensader Schlesiens ist. Sie ist von Cosel/OS bis zu ihrer Mündung bei Stettin in die Ostsee schiffbar. Zahlreiche Nebenflüsse speisen sie im schlesischen Raum. Ohne zu stocken mussten wir diese auswendig hersagen können, zuerst die linken: Oppa, Zinna, Hotzenplotz, Glatzer Neiße, Ohle, Lohe, Weißtritz, Katzbach, Bober mit dem Queis und Görlitzer Neiße. Sie sind die wasserreichen Seitenadern. Im Frühjahr bei Schneeschmelze lassen sie den Wasserstand des Stromes stark anschwellen und führen zu ausgedehnten Überschwemmungen. Diesen ungestümen, oft wütenden Wasserläufen aus den Sudeten stehen rechtsseitig die zahmen Nebenflüsse gegenüber: Ostrawitza, Olsa, Ruda, Birawka, Klodnitz, Malapane, Stober, Weide und Bartsch. Sie kommen aus der polnischen Ebene und winden sich gemächlich durchs flache Land.
Wer aber nannte die vielen kleinen Bäche, die in die Oder münden? Nur auf sehr genauen Karten sind sie zu finden. Wer kennt schon ihre Namen oder gar ihre Quellgebiete? Sie sind es, die oft der Landschaft erst einen besonderen Reiz verleihen. Zwar führt jeder einzelne keine großen Wassermengen, aber alle zusammen tragen dazu bei, dass die Schifffahrt auf dem Strom auch in trockenen Zeiten genug Wasser unter dem Kiel hat. Von einem dieser Bäche im Kreise Glogau will ich berichten und versuchen zu zeigen, wie er uns als Kindern im Anschauungsunterricht der Naturkunde diente, ohne dass ein Lehrer dabei war. Er zog uns einfach in seinen Bann, weil er sich bewegte, Form und Aussehen je nach Jahreszeit änderte und Tieren und Pflanzen eigener Art ihren Lebensraum schuf. An ihm spürten wir etwas von der Bedeutung des Wassers als Quelle allen Lebens in der Natur.
An der Grenze der Weichnitzer und Gustauer Gemarkung stand die „Tausendjährige Linde". Im Schatten der weit ausladenden Äste dieses Naturdenkmals entsprang ein Wasserlauf. Ein dünnes, das ganze Jahr hindurch gleich bleibendes Rinnsal klaren Wassers drang hier zwischen Steinen aus dem sanft ansteigenden Bergwald. Leises Murmeln im dichten Unterholz verriet die Stelle, wo ein Bach geboren wurde. Nur wenige kannten diese verborgene Quelle. Wildfährten im feuchten Waldboden und aufflatternde Singvögel zeigten beim Näherkommen an, wie beliebt der Ort bei den Tieren des Waldes war. An warmen Sommertagen habe ich hier manch' erquickenden Trunk kühlen Wassers aus der flachen Hand geschlürft.
Nur ein paar Schritte von seinem Ursprung entfernt kam das kleine Rinnsal schon zur Ruhe. Im Mühlteich des Bauern Adolf Standke aus Gustau wurde es gestaut, um nach Erreichen eines genügend hohen Wasserspiegels das Rad der Bergmühle anzutreiben. Für einen Dauerbetrieb wird es nicht gereicht haben, denn dafür war die Quelle nicht ergiebig genug, der Teich war stark verschlammt und im Laufe der Zeit dicht mit Schilfrohr bewachsen. Er war aber ein Paradies für vielerlei Wassertiere und Vögel. Schon von weitem drang ein vielstimmiges Froschkonzert ans Ohr eines Vorübergehenden. Deutlich unterschied sich das — ärr — ärr—oeck — oeck — koax — koax — der grünen Wasserfrösche vom heiteren — murr — or — or — or — der brauen Grasfrösche, wenn sie im Frühjahr die Weibchen anlockten. Da hinein mischten sich die Stimmen der im dichten Schilfwald zwitschernden Vögel. Übertönte mal der schrille Mahnruf eines Eichelhähers oder das plötzliche Schrecken eines Rehes im Bergmühlbusch das Teichkonzert, dann war sicher ein Störenfried im Wald. Mag es nun ein wildernder Hund oder eine Holzsammlerin gewesen sein, er störte den Frieden im Wald.

Bergmühlbach

>Der Bergmühlbach<


Zu meiner Zeit war die Mühle nicht mehr in Betrieb. Das alte Wasserrad, das einst die Mühlsteine bewegt hatte, stand still. Es klapperte nicht mehr, und aus der Mühle drang nicht mehr das Ächzen der mahlenden Steine. Manch Zentner Weizen und Roggen mögen zwischen diesen Steinen zu Mehl und Kleie zerrieben worden sein. Das Wasser des Teiches fiel aber weiter vom Überlauf auf das nun ruhende große Rad. An seinem Holz hatten sich dicke grüne Moospolster gebildet, aus denen das Wasser wie aus vollen Schwämmen herabrann und auf die Steine darunter plätscherte. Adolf Standke hatte das allmählich baufällig gewordene Haus mit der davorliegenden Obstwiese der Glogauer Freischar, einer Gruppe der Bündischen Jugend, mit ihrem Leiter Walter Gambke als Landheim zur Verfügung gestellt. Sein Sohn Richard, selbst ein begeistertes Mitglied, war stets dabei, wenn die Gruppe dort einkehrte. Naturverbundenen jungen Menschen mit Sinn für Romantik bot der idyllische Platz am Ufer des munteren Baches und am Waldesrand einen reizvollen Ort der Ruhe und Begegnung. Hier trafen sich Angehörige der jungen Generation in den Jahren nach dem großen Krieg (1914—18), um Abstand vom städtischen Leben und von den Sorgen des Alltags — Arbeitslosigkeit, Parteienhader, Kampf ums tägliche Brot — zu gewinnen. Weder eine politische Organisation, eine Kirche noch eine sonstige Gesellschaftsform rief sie hierher. Allein der Wunsch des einzelnen, inmitten der Natur, Freiheit zu spüren, Geselligkeit zu erleben und Aussprache mit Gleichaltrigen zu pflegen, führte sie zur Bergmühle. Sie lehnten Alkohol und Nikotin ab und suchten in gemeinsamen Wanderungen und Fahrten und durch die Pflege alter Volks- und Wanderlieder das Gemeinschaftserlebnis in der Gruppe. Am Lagerfeuer erklangen dann die Fahrtenlieder der Jugendbewegung, die Richard Standke auf der Violine begleitete. Gedanken der deutschen Jugendbewegung aus der Vorkriegszeit fanden hier eine Wiederbelebung.
Eine eigene Stimmung lag über dem Platz an der Bergmühle, wenn bei Einbruch der Nacht die lodernden Flammen das alte Fachwerkhaus und die Apfelbäume rot anstrahlten. Es lag ein besonderer Duft über dieser Szene, wenn sich der Geruch des brennenden Holzes mit dem des feuchten Waldbodens mischte. Erscholl aber bei Dunkelheit der langgezogene Ruf des Käuzchens, dann bekam die Stimmung etwas Unheimliches. Die Bergmühle gab nicht nur dem Bach seinen Namen, sondern wurde ein Begriff für die idealistisch denkende und für Naturromantik empfängliche Jugend.

zum Seitenanfang

zum Seitenanfang