Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 1, Januar 2019

Jakobskirch - Erinnerungen an die schöne Schulzeit

 

von W. Krause

 




„Wer etwas kann, der ist was wert, wer nichts versteht, ist nicht geehrt."
Diese guten Worte schrieb mir meine Lehrerin vor vielen Jahren ins Poesiealbum. Damals mussten wir Kinder von den Dörfern, die zum großen Kirchspiel Jakobskirch gehörten, alle nach Jakobskirch zur Schule. Auch Hainbach und Töppendorf mit der Oberförsterei Töppendorf gehörten dazu. Wir nannten diese Ortschaften die „Puschdörfer"', weil sie im Walde, im „Pusch", lagen.
In den Jahren 1910 und 1911 wurden große Waldflächen — besonders solche, wo Fichten und Kiefern standen — vom Fichtenspinner heimgesucht. Der Fichtenspinner ist ein kleiner Nachtschmetterling, er wird auch „Nonne" genannt, erreicht eine Länge von sechs Zentimetern und hatte in anderen Gegenden schon ganze Wälder zerstört. Sollte dem Schädling beizukommen sein, dann mussten die Eiablagen unterbunden werden, so dass die Raupen nicht noch mehr Schaden anzurichten vermochten.
Da war nun guter Rat teuer! Wohl hätte man können Arbeitsleute einstellen, die der „Nonne" zu Leibe gerückt wären, aber auf dem Lande hatten alle Menschen genügend Arbeit, und es kam wohl dem Staat auch zu teuer, denn er hätte ja solche Arbeitskräfte, die zusätzlich in den Forsten gearbeitet hätten, bezahlen müssen. Es gab zwar früher nicht mehr als 50 bis 60 Pfennig in der Stunde, aber das hätte doch schon einen beträchtlichen Kostenaufwand erfordert. Das war für den Staat nicht tragbar, denn auch damals hieß es: Sparsam wirtschaften!
Da wurde uns Schulkindern eines Morgens — der Unterricht hatte noch nicht angefangen — eine große Überraschung zuteil. Wir hatten unser Morgengebet „Führe mich, o Herr, und leite meinen Gang nach deinem Wort" kaum gesprochen, da nahm unser Hauptlehrer und Kantor Ansorge einen langen, breiten Zettel, ein Formular, aus der Rocktasche. „Jetzt hört mal alle genau her“, forderte er uns auf. Wir rissen „Mund und Augen und Ohren" auf. Dann verlas uns der Kantor eine „Genehmigungsverfügung". Sie lautete — ich kann den Wortlaut nahezu genau wiedergeben
„Die Königlich-Preußische Regierung, Regierungsbezirk Liegnitz, Schlesien, hat auf Antrag der Oberförsterei Töppendorf und im Einvernehmen mit dem Orts-Schulinspektor — Pastor Rosemann, Jakobskirch — die Genehmigung erteilt, alle Schulkinder ab zehn Jahren zur Rettung des Waldes zum Nonnen-Töten einzusetzen. Die Tätigkeit wird den Schulunterrichtsstunden gleichgestellt und duldet kein Versäumen derselben."
„Habt ihr alles verstanden", wurden wir gefragt. Die überlaute Antwort kam besonders von den Jungen, für die war das ein „gefundenes Fressen", wie man auf gut Schlesisch sagte. Wir Mädchen waren damit nicht so ohne weiteres einverstanden. Unsere Schulfreundinnen aus Hainbach und Töppendorf munkelten nämlich, dass wir dazu lange, schwere Stangen benötigten.
Es begann ein fürchterliches Gequassel in der Schulstube. Die Jungen dachten sogleich an Marder, Iltisse und Füchse, die sie dabei entdecken wollten. Sie überlegten, wenn sie eines dieser Tiere fingen und nach Glogau zum Kürschnermeister Matern in die Mälzstraße brächten, was es dann wohl für ein Entgelt dafür gäbe. Keinesfalls würden sie ein solches Tier mit gutem Fell dem Lumpenmanne mitgeben.
Jetzt befahl der Kantor: „Ruhe!" Er stellte eine Namensliste auf. Gleichzeitig wurden wir beauftragt, am nächsten Tage von den Eltern eine „Einverständniserklärung" mitzubringen. Auf dem Nachhausewege wurden wir Mädel an jenem Tag von den Jungen besonders gehänselt: „Eer Madel, bleebt ock derrheem, Kittelfranzosen kinn' ber im Wald nie gebroochen!"
Wir wären gerne zu Hause geblieben, wenn wir nicht zur Teilnahme an der bevorstehenden Waldstreiferei verpflichtet gewesen wären. Kein Mädel wollte sich ins Zensurenheft eine rote Zahl in die Rubrik „Schulversäumnisse" schreiben lassen. Wir Denkwitzer und Leutbacher Mädel hatten uns besprochen, dass wir unsere kurz zuvor erhaltenen Turnstäbe mitnehmen wollten, so dass wir die schweren Stangen, die uns immer noch in den Köpfen herumspukten, nicht benutzen müssten. Am Abend jenes Tages legten wir dicke Stricknadeln in die Glut des Küchenherdes, und jedes Mädel brannte mit der glühenden Nadel — Punkt an Punkt — die Anfangsbuchstaben seines Namens in den Turnstab.
Am nächsten Morgen — bereits um halb sieben Uhr — ging es los! Die Rucksäcke waren mit Esswaren gefüllt. Manche unserer Mitschüler hatten ihre schönen „Botanisiertrommeln" — damals etwas ganz Modernes — umgehängt, auf dass die „Wurschtschnitten" frisch bleiben sollten.
Kaum entdeckten uns die Jungen mit unseren Turnstäben, da ging die Hänselei los. Die Lausejungen brachten es so weit, dass der Kantor, der anfänglich nichts gegen unsere Stäbe einzuwenden hatte, gebot, die Stäbe nicht zu benutzen. Der Spaziergang zu so früher Morgenstunde hat uns natürlich wohlgetan. Aber wir Mädel hatten keinen rechten Mut zu der Arbeit, die uns bevorstand; uns spukten immer noch die langen Stangen im Kopf herum.
Als wir bei der Oberförsterei Töppendorf anlangten, bellten schon die Hunde. Der Oberförster kam, freute sich und begrüßte uns mit den Worten: „Na, Herr Kantor, wenn Sie mit so vielen Helfern kommen, dann werden wir's schon zwingen."
Jetzt musste der Augenblick da sein, wo wir die gefürchteten Stangen holen mussten! Die verdammten Jungen waren schon wieder vorneweg und stritten sich herum. Jeder wollte natürlich eine recht leichte Stange haben. Es war so ein Durcheinander, dass der Oberförster und unser Kantor eingreifen mussten. Wir Mädel erhielten nun leichte, bereits geschälte Stangen. Die großen Jungen erhielten schwerere, die noch mit Rinde und Harz behaftet waren. Jetzt packte die Jungen die Wut. Sie kündigten an: „Noa, woart ock, uff heimzu gibt's Schnicke!" Das war eine der geläufigsten Jungenredensarten!
Der Oberförster gab die Arbeitsanleitung und führte uns vor, wie wir mit der Spitze der Stange genau auf den Kopf der „Nonne" drücken sollten, so dass diese tot zur Erde fiel. Beim ersten Versuch klappte es noch nicht. Die Spitze der Stange schwankte etwas. Es kostete also Anstrengung. Wir mussten mit dem Kopf fortwährend in der gleichen Richtung blicken und Aufmerksamkeit walten lassen. Es durfte uns ja keine Borke oder kein kleines Geäst in die Augen fallen, was trotzdem noch oft genug geschah. Durch das Reiben in den Augen, Kinder machen das immer sehr schnell, entzündeten sich die Augen, so dass bereits am folgenden Tage etliche Kinder deshalb zu Hause bleiben mussten. Im Walde herrschte schwüle Luft. Wir Mädel hatten „Kopptich'l" umgebunden, sonst hätten wir die Nadeln und die Borke nicht mehr aus den Haaren gebracht.
Das Mittagessen schmeckte uns. Die Jungen aber hielten keine Ruhe. Sie wollten unbedingt sehen, ob es nicht einen Fuchsbau aufzustöbern gab. Und sie fanden tatsächlich einen. Auf dem Heimwege aber machten auch die Schüler schlapp, die vorher eine große „Klappe" gehabt hatten. Die uns von den Jungen angekündigte „Schnicke" fiel somit weg.
Gegen sechs Uhr abends kamen wir nach Hause. Wenn man bedenkt, dass wir vom Töppendorfer Forst bis nach Leutbach, Denkwitz, Hühnerei, Druse usw. hin- und zurücklaufen mussten — noch nach dieser anstrengenden Tätigkeit —, so hatten wir schon eine Leistung vollbracht. Gewiss waren wir alle zu Hause zur Arbeit angehalten, aber wir waren schließlich noch Kinder! Heute würde eine solche Arbeit — verbunden mit dem weiten Anmarsch — kein Kind mehr tun. Wir verrichteten sie unentgeltlich. Unser Idealismus war so groß, dass wir gerne bereit waren, unseren gefährdeten Wald zu retten.
Am Abend klagten wir über Genickstarre und konnten nicht richtig liegen. Da ging das Einreiben los! Ich weiß es noch genau: „Hienfong" oder „Dreimal Grün", ein warmes Tuch darauf, und am nächsten Morgen war es wieder gut! Einer der Schuljungen hatte die Hände voller Blasen. Er holte sich beim Schirmer-Schuster in Jakobskirch Schusterpech und verschmierte sich die schmerzenden Wunden an den Händen. So ging es wochenlang weiter! Der Oberförster sah täglich nach dem Rechten. Auch unser Kantor Ansorge war bemüht darum, dass wir vorwärtskamen. Wir hatten eine große Fläche von den Schädlingen gesäubert. Später durften wir uns auf einem Schulspaziergang ansehen, wie sich die Bäume wieder erholten. Der Schulleitung ging ein Dankesschreiben zu. Wir Kinder bekamen einen schulfreien Tag als Belohnung.
Ich war voller Befriedigung! Ich freute mich, dass ich durchgehalten hatte, sonst hätte ich mich vor meiner Klassenlehrerin geschämt, die mir ins Poesiealbum geschrieben hatte: „Wer nichts versteht, ist nicht geehrt."





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