Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 5, Mai 2019

Unser Schützenplatz in Glogau

 

von Hans J. Gatzka

 




Genau besehen war besagter Platz die meiste Zeit des Jahres eine versteppte Ödfläche, die sich am Schützenhaus vorbei bis hinunter an das Oderufer ausbreitete. Eine Pflasterstraße und ein Bürgersteig vor der Front des Schützenhauses endete abrupt, etwa 80 Meter vor dem Flussufer. Ging man nach links, etwa 100 Meter weiter, mündete der Platz in einen Uferweg, der nach Beichau führte.
Nach Osten wurde das Platzgebilde vom Bahndamm und der Eisenbahnbrücke begrenzt, deren Gleise nach Fraustadt, Lissa und weiter nach Posen führten. Stand man auf dieser wild-wuchernden Grasnarbe mit dem Blick über die Oder, so bot sich allerdings ein sehr eindrucksvolles Panorama. Die Brücke verschmolz mit dem Blick zum Dom, wenn man nach rechts schaute. Fast geradeaus sah man in die Mündung der Alten Oder, an deren Ufer sich der wuchtige Malakow über die Landschaft in Richtung Rabsen abhob.

>Schützenhaus Glogau, Inh. Erich Paedelt<

Der Malakow und seine Umgebung stand oft im Mittelpunkt unserer jugendlichen Entdeckerfreude. Einen uralten Baum gab es damals dort, dessen Äste den Ufersaum überragten und uns zu munterem, vielleicht auch nicht ganz ungefährlichem Spiel animierten. Wir kletterten hinauf ins Geäst, hangelten uns bis über die Wasserfläche und ließen uns in die Fluten der Alten Oder fallen.

>Oderpartie, Blick auf das Schützenhaus<

Zu buntem Leben und Treiben erwachte die verträumte Öde des Schützenplatzes einmal im Jahr zum Pfingstfest. Dann spazierten und flanierten wohl alle Glogauer, jung und alt, zum „Rummel" an der Oder, in den er sich stets um diese Zeit verwandelte. Die Glogauer Schützengilde von 1513 feierte mit großem Aufmarsch und Zeremoniell ihr alljährliches Schützenfest. Um die Ehre des Schützenkönigs wurden die Gewehre in der großen Schießhalle in Anschlag auf die Scheiben, insbesondere auf die „Königsscheibe", gebracht. Gottlob zu absolut friedlichem Vergnügen und der in Glogau ältesten Tradition eines Vereins, einer Gilde, verbunden.
Die Entstehung der Schützengilde, so schrieb Heimatfreund Wilhelm Herdzina im November 1963, geht auf die Bogenschützen, die St. Sebastiansbrüder, später die Gilden der Armbrustschützen zurück. Sie rekrutierten sich aus freien, angesehenen Bürgern der Stadt, die bereit waren ohne Sold das Gemeinwesen zu schützen und zu verteidigen. Volkstum, Brauch und Sitte waren die Pfeiler der Heimatpflege, der sich die Schützenvereine und so auch die Glogauer Schützengilde verpflichtet fühlten.
Vor diesem moralischen Hintergrund lässt sich auch das Traditionszeremoniell begreifen, welches die Glogauer Schützen bei ihrem alljährlichen Fest inszenierten. Geprägt durch die Privilegien von 1534, deren letzte Fassungen im 18. Jahrhundert von Friedrich dem Großen eine erweiterte Festschreibung erhielten, beging die Glogauer Gilde ihr großes Schützenfest. Die ganze Stadt nahm Anteil daran, es gehörte einfach zum Leben in unserer Heimat. Die Umzüge und Aufmärsche mit den großen Blaskapellen, vor und nach der Proklamation des Schützenkönigs fanden in aller Öffentlichkeit statt. Es wurde zum Fest der Glogauer. Eingebunden in diese Festlichkeiten waren auch die Stadtoberen bis hin zum Oberbürgermeister und dem Stadtkommandanten.



Das große Schießfest mit dem Königsschießen fand in den Baulichkeiten des Glogauer Schützenhauses statt. Dort befand sich die große neue Schießhalle mit 50 Schießständen verschiedener Weiten und Disziplinen von 50-180 m. Die neue Halle wurde im Jahre 1925, wie es heißt, „in großzügigster Weise" erbaut. Anlässlich des Gildefestes, welches immer am Donnerstag vor Pfingsten mit einem festlichen Aufzug der Schützen begann, eröffnete auch das turbulente Spektakel der Schausteller, die ihre Vergnügungswelt für die Bürger der Stadt aufgebaut hatten. Betrat man über den Bahnübergang, nahe dem alten Bahnhof, den Platz, klang einem unüberhörbar jenes Tongemisch aus Orgel, Leierkasten und Lautsprechern entgegen, als kämpften Note für Note gegeneinander. Die Melodien der letzten und aktuellen Filmmusiken dröhnten dudelnd über den Platz. Das gesamte Repertoire der Strauß- und anderer Walzerkönige kam von den Walzen der Drehorgeln, vermischt mit dem Schnarren der Glücksräder. Das Stakkato der Männer und Frauen, die hinter ihren knallbunten Pappfassaden die großen „Weltsensationen" zu bieten hatten, füllte den Rest der Vergnügungsarena. Ich sehe noch heute jenen Moderator vor, besser über mir, der stets die Linnendessous der „Dicken Berta" wie ein großes Tischtuch zur Animation des „geschätzten Publikums" als Trophäe ausbreitete. Wenn ich, meiner Erinnerung folgend, mit fünfzig Pfennig Taschengeld in der Faust über den Platz gehe, wird das alles noch einmal sehr lebendig. Die ersten Schritte führten auf der rechten Seite an einigen Ständen vorbei, die allerlei Tand feil hielten, kaum etwas für Jungen in meinem Alter. Schon eher interessierte mich auf der linken Seite ein mittelgroßes Karussell, dessen Betreiber immer auf der Suche nach „preiswerten Antriebskräften" war. Das Schmuckstück hatte nämlich keinen Motor für seinen Drehbetrieb. Es musste oberhalb der bunten Verkleidung, von einem Laufboden aus, in Bewegung gebracht werden. 2-3 Jungen konnten das Karussell ganz gut und ohne größeren Kraftaufwand in Schwung bringen. Auf Kommando vom Chef des Karussells legten wir uns „in die Riemen", das heißt, wir schoben das Ding auf seinen Rundkurs, bis die kleinen Reiter und Feuerwehrfahrer vor Vergnügen jubelten. Das Abbremsen des Karussells war ebenfalls „Chefsache", denn die drehende Schwungmasse entwickelte enorme Kräfte.
Gegen Honorar, dessen Höhe mir heute nicht mehr geläufig ist, habe ich mich manchmal, je nach Lage der Eigenfinanzen, für 2-3 Stunden auf den Betriebsboden verdingt. Mit dem jeweiligen Erlös ging ich dann an das andere Ende des Platzes in Richtung Beichau. Dort nämlich stand der Autoscooter. Damals Inbegriff von Hochtechnik auf einem Rummelplatz. Für uns Knaben der Superlativ des Vergnügens. Die ersten Fahrversuche hinter einem richtigen Autolenkrad fanden somit hinter dem Schützenhaus statt, wenngleich mit elektrischem Antrieb und auf begrenzter Fläche.
In Nachbarschaft zu diesem Autospaß stand meist die Achterbahn oder das Riesenrad. Beide Fahrgeschäfte hatten damals schon erhebliche Ausmaße. Man konnte sie nicht überhören, besonders den Betrieb der Achterbahn, deren Fahrgäste ihr Fahrgefühl im Auf und Ab der Wagen lautstark artikulierten. Luftschaukeln, Wurststände und Eisbuden, machten die Entscheidung, wofür nun letzten Endes auch der letzte Groschen auszugeben sei, nicht leichter. „Türkischer Honig", erinnere ich mich, lag rosa und weiß schimmernd in einem mächtigen Block auf einem Holzbock. Mit einem besonderen Messer, das aussah wie ein Halbmond, schabte jemand mit rotem Kopfputz etwas von dem süßen Honigblock in ein Papier. Welch ein exotischer Genuss! Eine ganz besondere Eisspezialität wurde am Ende der Pflasterstraße auf der rechten Seite, vor Augen der Eisliebhaber zubereitet. Mehrere Eismaschinen drehten sich ständig im Hintergrund des Eisstandes, deren Rührwerke jeweils gleichzeitig eine Scheibe rotieren ließen, auf denen spiralförmige Linien aufgebracht waren. Bei der schnellen Drehbewegung der Scheiben ergab sich der optisch reizvolle Effekt einer Endlosspirale. Das Kettenkarussell, flankiert von der Riesenstellage einer Los-„bude", vollgepackt mit Tand und Jahrmarktkitsch, stand zur Brücke hin und sorgte für so manches Unwohlsein, dem man, einmal im Kettensitz hängend und festgezurrt nicht mehr entfliehen konnte. „Das Karussell, es dreht sich immer, immer rundherum ...", ein Schlager dieser Zeit, mag heute noch solch' flaue Erinnerungen wachrufen. Der Blick hinunter „auf das Volk" wurde zur drehenden Schieflage mit rasch wechselnder Bildfolge. Von den Oderbrücken bis zur Stadtkulisse, den Rummelplatz und wieder über die Oder von vorn flog man in den Hängesitz gepresst. Schießbuden, „drei Schuss 30 Pfennig hier"! - Eine Papierrose mit Glimmerrändern und ähnliches forderten die Ehre mannhafter Kavaliere heraus und so manches Mal war dann die „Knarre" schuld, wenn die Rose nicht vom Stengel fiel. In einem Irrgarten oder Lachkabinett, ein aus Zerrspiegeln angelegtes Labyrinth, konnte man sein eigenes Konterfei auf die Maße von Oliver Hardy bis Charly Chaplin bringen, alle Zwischenmaße eingeschlossen.

>Schützenfest in Glogau<

„Auf den Lucas" konnte man am Oderufer hauen. Sich mit dem Holzhammer abreagieren bis es oben knallte an der Kraftmesslatte. Ich habe solches besser nicht probiert, denn meine Statur war zu diesen Zeiten eigentlich gar keine. Der „Lucasmann“ hätte mir wohl den Hammer auch für's doppelte Geld nicht in die Hand gegeben. „Komm' wieder, wenn Du etwas auf den Rippen hast", würde er wohl gesagt haben. Deshalb sah ich mir das Zelt mit den „stärksten Männern der Welt" auch nur von außen an und bewunderte die Muskelprotze mit ihrem athletischen Gehabe auf der Bühne vor dem Zelt. Immer wieder riskierten waghalsige Herausforderer aus „dem geschätzten Publikum" einen Kampf mit einem dieser Mannsbilder im knappen Dress über der Heldenbrust.
Mich interessierte und faszinierte inzwischen viel mehr die Bemalung der Pappfassaden dieser Schau- oder Scheinwelt. Ein undefinierbarer Plakatismus kam in diesen Bemalungen zum Ausdruck, der so ziemlich vor nichts zurückschreckte. Romantische Szenen voller Blüten und Blumen. Elfenhafte Traumgestalten in üppiger Aufmachung und wehenden Schleiern wechselten mit den dramatischen Bildern verstoßener Liebe und den Rachegebärden der Rivalen. Anleihen in der Klassik und aus dem Stilkatalog vieler anderer Epochen färbten die Verkleidungen der Zelte und Buden.
So schön, so bunt, so fernvergessen. Nie wieder war es so schön auf einem Schützenfest wie in unserem Glogau an der Oder.



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